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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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vermisste. Leonhard erinnerte
sich manchmal noch am nächsten Tag an das Cello. Er sprach davon, und wenn er
auch keine Zusammenhänge herstellen konnte, schien irgendetwas in seinem
Gedächtnis haften zu bleiben. Theresa spielte jetzt jeden Abend für ihn, fast
immer masturbierte er, und fast immer fiel sie danach im Badezimmer in sich
zusammen und weinte.
     
    Sechs Monate nach der letzten
Operation begannen die Narben Leonhards zu schmerzen. Die Ärzte sagten, dass
weitere Amputationen notwendig seien. Nach einer Computertomografie erklärten
sie, er würde bald auch die Sprache verlieren. Theresa wusste, dass sie das
nicht ertragen könnte.
    Der 2 6 . November war ein kalter grauer
Herbsttag, es war früh dunkel geworden. Theresa hatte Kerzen auf den Tisch
gestellt und schob Leonhard im Rollstuhl an seinen Platz. Die Zutaten für die
Fischsuppe hatte sie im KaDeWe gekauft, er hatte sie früher gerne gegessen. In
der Suppe, in den Erbsen, im Rehbraten, in der Mousse au Chocolat und selbst im Wein
war Luminal, ein Barbiturat, das sie problemlos wegen Leonhards Schmerzen bekommen
hatte. Sie gab es ihm in kleinen Mengen, damit er es nicht erbrach. Sie selbst
aß nichts und wartete.
    Leonhard wurde schläfrig. Sie
schob ihn ins Badezimmer und ließ die große Wanne ein. Sie zog ihn aus, er
hatte kaum noch die Kraft, sich an den neuen Griffen in die Wanne zu wuchten.
Dann zog auch sie sich aus und stieg zu ihm in das warme Wasser. Er saß vor
ihr, sein Kopf lehnte an ihren Brüsten, er atmete ruhig und gleichmäßig. Als
Kinder hatten sie oft so zusammen in der Badewanne gesessen, weil Etta kein Wasser verschwenden
wollte. Theresa hielt ihn fest umschlungen, sie legte ihren Kopf auf seine
Schulter. Als er eingeschlafen war, küsste sie seinen Nacken und ließ ihn
unter Wasser gleiten. Leonhard atmete tief ein. Es gab keinen Todeskampf, das Luminal hatte seine
Steuerungsfähigkeit ausgeschaltet. Seine Lungen füllten sich mit Wasser, er ertrank.
Sein Kopf lag zwischen ihren Beinen, er hatte die Augen geschlossen, und seine
langen Haare trieben an die Oberfläche. Nach zwei Stunden stieg sie aus der
kalten Wanne, legte ein Handtuch über ihren toten Bruder und rief mich an.
    Sie gestand. Aber es war nicht
nur ein Geständnis, sie saß fast sieben Stunden vor den beiden
Ermittlungsbeamten und diktierte ihr Leben ins Protokoll. Sie legte
Rechenschaft ab. Sie begann mit ihrer Kindheit und endete mit dem Tod ihres
Bruders. Sie ließ nichts aus. Sie weinte nicht, sie brach nicht zusammen, sie
saß kerzengerade und sprach gleichmäßig, ruhig und druckreif. Zwischenfragen
waren nicht notwendig. Während die Schreibkraft ihre Aussage ausdruckte,
rauchten wir in einem Nebenzimmer eine Zigarette. Sie sagte, sie würde nun
nicht mehr darüber sprechen, sie habe alles gesagt. »Mehr habe ich nicht«,
sagte sie.
     
    Natürlich wurde Haftbefehl
wegen Mordes erlassen. Ich besuchte sie fast jeden Tag im Gefängnis. Sie ließ
sich Bücher schicken und blieb auch in den Freistunden in ihrer Zelle. Lesen
war ihre Betäubung. Wenn wir uns trafen, wollte sie nicht über ihren Bruder
sprechen. Auch der bevorstehende Prozess interessierte sie nicht. Sie las mir
lieber aus den Büchern vor, Abschnitte, die sie in ihrer Zelle ausgesucht
hatte. Es waren Vorlesestunden in einem Gefängnis. Ich mochte ihre warme
Stimme, aber damals verstand ich es nicht: Ihr war keine andere Möglichkeit
geblieben, sich zu äußern.
     
    Am 24. Dezember war ich bis zum Ende
der Besuchszeit bei ihr. Dann schlossen sich die Panzerglastüren hinter mir.
Draußen hatte es geschneit, alles war friedlich, es war Weihnachten. Theresa
wurde wieder in ihre Zelle gebracht, sie setzte sich an den kleinen Tisch und
schrieb einen Brief an ihren Vater. Dann zerriss sie das Bettlaken, drehte es
zu einem Seil und erhängte sich am Fenstergriff.
    Am 25. Dezember erhielt Tackler einen Anruf von der diensthabenden
Notstaatsanwältin. Nachdem er aufgelegt hatte, öffnete er den Tresor, nahm den
Revolver seines Vaters, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
     
     
    Die Gefängnisverwaltung
verwahrte Theresas Habe in der Hauskammer. In unserer Strafprozessvollmacht
steht, dass wir als Anwälte berechtigt sind, Gegenstände für unsere Mandanten
in Empfang zu nehmen. Irgendwann schickte die Justiz ein Paket mit ihrer
Kleidung und ihren Büchern. Wir leiteten die Sachen an ihre Tante nach
Frankfurt weiter.
    Eines ihrer Bücher habe ich
behalten, sie hatte meinen Namen auf
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