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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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Englisch, ich hatte mit ihm telefoniert und
ihn gebeten, hier auszusagen. Als ich ihm vorschlug, die Flugkosten zu
übernehmen, hatte er mich ausgelacht. Er hatte gesagt, er sei so glücklich,
dass sein Freund noch lebe, er würde überall hinkommen, um ihn zu sehen. Und
jetzt stand er vor der Tür des Gerichtssaales und wartete.
    Mit einem Schlag war Michalka
hellwach. Er sprang auf, als der Arzt den Saal betrat, und wollte zu ihm, die
Tränen liefen ihm herunter. Die Wachtmeister hielten ihn fest, aber die
Vorsitzende winkte ab und ließ es zu. Die beiden umarmten sich mitten im
Gerichtssaal, Michalka hob den zierlichen Mann hoch und drückte ihn an sich.
Der Arzt hatte ein Video mitgebracht, ein Wachtmeister wurde losgeschickt, um
ein Abspielgerät zu holen. Wir sahen jetzt das Dorf, die Seilbahn, die
Lastwagen, lauter Kinder und Erwachsene, die ständig lachend in die Kamera
winkten und »Frroank, Frroank« riefen. Und dann sah man endlich Ayana und Tiru.
Michalka weinte und lachte und weinte wieder. Er war völlig außer sich. Er saß
neben seinem Freund und zerquetschte fast dessen Finger mit seinen enormen
Händen. Die Vorsitzende und eine der Schöffinnen hatten Tränen in den Augen. Es
war alles andere als eine typische Gerichtsszene.
     
    Unser Strafrecht ist
Schuldstrafrecht. Wir strafen nach der Schuld eines Menschen, wir fragen, in
welchem Maß wir ihn für seine Handlungen verantwortlich machen können. Das ist
kompliziert. Im Mittelalter war es einfacher, man bestrafte nur nach der Tat:
Einem Dieb wurde die Hand abgehackt. Und zwar immer. Es war ganz gleich, ob er
aus Geldgier stahl oder weil er sonst verhungert wäre. Strafen war damals eine
Art Mathematik, auf jede Tat stand ein genau festgelegtes Strafmaß. Unser
heutiges Strafrecht ist klüger, es wird dem Leben gerechter, aber es ist auch
schwieriger. Ein Bankraub ist eben nicht immer nur ein Bankraub. Was konnten
wir Michalka schon vorwerfen? Hatte er nicht das getan, was in uns allen ist?
Hätten wir an seiner Stelle tatsächlich anders gehandelt? Ist es nicht die
Sehnsucht aller Menschen, zu denen zurückzukehren, die sie lieben?
     
    Michalka wurde zu zwei Jahren
verurteilt. Eine Woche nach dem Prozess traf ich die Vorsitzende auf einem der
langen Gerichtsflure in Moabit. Sie sagte, dass die Schöffen zusammengelegt
hätten, um ihm ein Flugticket zu kaufen.
     
    Nachdem Michalka die Hälfte
der Strafe verbüßt hatte, wurde er auf Bewährung entlassen. Der Vorsitzende der
Vollstreckungskammer, eine Art fontanescher Stechlin, ließ sich die ganze
Geschichte nochmals erzählen und brummte nur: »Dolles Ding.« Dann verfügte er
die Entlassung.
     
    Michalka lebt heute wieder in
Äthiopien und hat die dortige Staatsbürgerschaft angenommen. Tiru hat
inzwischen einen Bruder und eine Schwester bekommen. Manchmal ruft Michalka
mich an. Er sagt immer noch, er sei glücklich.
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