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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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dunkles Tier.
    Der Empfang hatte ihn viel
Geld gekostet, aber er fand, dass es sich gelohnt hatte, denn sie waren alle
gekommen: der Ministerpräsident, die Bankiers, die Einflussreichen und die
Schönen, vor allem aber der berühmte Musikkritiker. An mehr wollte er jetzt
nicht denken. Es war Theresas Fest.
     
    Theresa war damals zwanzig
Jahre alt, eine klassische schmale Schönheit mit einem Gesicht von fast
vollständiger Symmetrie. Sie wirkte ruhig und gefasst, und nur eine dünne Ader
an ihrem Hals zeigte den aufgeregten Schlag ihres Herzens.
    Nach einer kurzen Rede ihres
Vaters setzte sie sich auf die rot ausgeschlagene Bühne und stimmte das Cello.
Ihr Bruder Leonhard saß auf einem Hocker neben ihr, er würde die Notenseiten umblättern.
Der Gegensatz zwischen den beiden Geschwistern hätte nicht größer sein können.
Leonhard war einen Kopf kleiner als Theresa, er hatte Statur und Gesicht des
Vaters geerbt, nicht aber dessen Härte. Von seinem roten Kopf rann Schweiß in
das Hemd, der Rand des Kragens hatte sich dunkel gefärbt. Er lächelte ins
Publikum, freundlich und weich.
     
    Die Gäste saßen auf winzigen
Stühlen, sie verstummten allmählich, das Licht wurde gedämpft. Und während ich
noch unentschlossen war, ob ich überhaupt aus dem Garten zurück in den Saal
gehen sollte, begann sie zu spielen. Sie spielte die ersten drei der sechs
Cellosonaten von Bach, und schon nach wenigen Takten war mir klar, dass ich
Theresa nie wieder würde vergessen können. An jenem warmen Sommerabend in dem
großen Saal der Gründerzeitvilla, deren hohe Sprossentüren sich weit in den
erleuchteten Park öffneten, erlebte ich einen dieser seltenen Momente absoluten
Glücks, die nur Musik uns ermöglicht.
     
     
    Tackler war Bauunternehmer in der
zweiten Generation. Er und sein Vater waren durchsetzungskräftige, intelligente
Männer, die in Frankfurt ihr Vermögen mit Immobilien gemacht hatten. Der Vater
hatte sein Leben lang in der rechten Hosentasche einen Revolver und in der linken ein Bündel Geld getragen. Tackler brauchte keine Waffe mehr.
     
    Drei Jahre nach Leonhards
Geburt besichtigte seine Mutter ein neu gebautes Hochhaus ihres Mannes. Im 18. Stock des Rohbaus wurde
Richtfest gefeiert. Irgendjemand hatte vergessen, eine Brüstung abzusichern.
Das Letzte, was Tackler von seiner Frau sah, waren ihre Handtasche und ein
Sektglas, die sie neben sich auf einen Stehtisch gestellt hatte.
     
    In den darauffolgenden Jahren
zog an den Kindern eine ganze Anzahl von >Müttern< vorbei. Keine blieb
länger als drei Jahre. Tackler führte ein wohlhabendes Haus, es gab einen Fahrer,
eine Köchin, eine Reihe von Putzfrauen und zwei Gärtner für den Park. Er hatte
nicht die Zeit, sich um die Erziehung seiner Kinder zu kümmern, und so wurde
die einzige Konstante in ihrem Leben eine ältliche Krankenschwester. Sie hatte
schon Tackler erzogen, roch nach Lavendel und wurde von allen nur Etta genannt. Ihr Hauptinteresse
galt Enten. In ihrer Zwei-Zimmer-Dachwohnung in Tacklers Haus hatte sie fünf
ausgestopfte Exemplare an die Wände gehängt, und selbst im Band des braunen
Filzhutes, ohne den sie nicht ausging, steckten zwei blaue Erpelfedern. Kinder
mochte sie nicht besonders.
    Etta war immer geblieben, sie
gehörte längst zur Familie. Tackler hielt Kindheit für
Zeitverschwendung, er erinnerte sich kaum an die eigene. Er vertraute Etta, weil sie mit ihm in den
Grundsätzen der Erziehung übereinstimmte. Diszipliniert und, wie Tackler sagte, »ohne Dünkel« sollten
die Kinder aufwachsen. Härte war manchmal notwendig.
    Theresa und Leonhard mussten
sich ihr Taschengeld selbst verdienen. Im Sommer stachen sie im Garten Löwenzahn
aus und erhielten pro Pflanze einen halben Pfennig -»aber nur mit Wurzel, sonst
gibt es nichts«, sagte Etta. Sie zählte die einzelnen Pflanzen genauso penibel wie
die Pfennige. Im Winter mussten sie Schnee schippen, Etta zahlte nach Metern.
    Als Leonhard neun Jahre alt
war, rannte er von zu Hause weg. Er kletterte im Park auf eine Tanne und
wartete, dass sie nach ihm suchen würden. Er stellte sich vor, wie erst Etta und dann sein Vater verzweifeln
und seine Flucht beklagen würden. Es verzweifelte niemand. Vor dem Abendessen
rief Etta, wenn er jetzt nicht käme, gäbe es nichts mehr zu essen und den Hintern
voll. Leonhard gab auf, seine Kleidung war voller Harz, und er bekam eine
Ohrfeige.
    Zu Weihnachten schenkte Tackler den Kindern Seife und
Pullover. Nur einmal schickte ein Geschäftsfreund,
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