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Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
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wenigen Schritten in kleinen Bächen über mein Gesicht und tropfte von Kinn und Nase. Es war einfach zu heiß. Am Ende der fünften Bahn – ich wendete gerade an dem kopfhohen Holzzaun, der unübersehbar die Grenze zwischen unserem Garten und dem von Frau Koslowski markierte –, da kam Omi mit einem Tablett aus dem Haus.
    „Hier, mein Junge, mach mal eine kleine Pause!“, rief sie und stellte das Tablett auf den Gartentisch. „Ich habe dir extra einen schönen Brennnessel-Tee gemacht.“
    Ich dachte an die Anstrengungen, die es mir bereiten würde, das Ungetüm wieder in Gang zu kriegen, doch die schattige Kühle unter der taubenblauen Markise war einfach zu verlockend.
    „Der wird dich beruhigen.“ Omi streckte mir eine dampfende Tasse entgegen.
    „Aber ich bin doch ganz ruhig“, erwiderte ich und wischte mir übers Gesicht.
    „Ach, mein lieber Dodo … zu viel Ruhe kann nie schaden. Das haben auch immer deine Eltern –“ Sie stockte und kniff die Augen zusammen. Ihr Gesicht war plötzlich von tiefen Gräben durchzogen.
    „Schon wieder dein Magen?“, fragte ich und stellte die Tasse auf den Tisch.
    Omi schüttelte den Kopf und presste beide Hände auf ihren Bauch. „Ist schon gut, mach dir keine Sorgen … Das brennt nur ganz kurz.“ Sie versuchte ein Lächeln, was jedoch gründlich misslang. „Geht gleich schon wieder.“
    Schon immer litt Omi unter schlimmen Bauchschmerzen, die scheinbar völlig willkürlich auftraten. Glücklicherweise verschwanden die Schmerzen jedoch meistens genauso schnell, wie sie gekommen waren. Manchmal glaubte ich, ein Geräusch zu hören, kurz bevor Omi zusammenzuckte und die Hände auf ihren Bauch legte – so etwas wie das leise Knistern, das man hört, wenn man bei Regen unter den Hochspannungsleitungen steht. Damals habe ich das als Einbildung abgetan.
    Die Schluchten in Omis Gesicht verteilten sich auf Hunderte kleiner Falten, und Omi selbst richtete sich wieder zu ihren vollen ein Meter dreiundfünfzig auf, nur um sich gleich darauf erschöpft in einen der Gartenstühle sinken zu lassen. Ich setzte mich ihr gegenüber und versuchte, das abrupt unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen.
    „Was haben meine Eltern immer gesagt?“
    „Ach, Dodo …“ Omi seufzte. „Das erzähle ich dir später. Mir geht‘s gerade nicht so gut. Mach bitte noch den Rest fertig.“ Sie sah an mir vorbei auf die Wiese. „Und nicht vergessen: Das Rasenstück vor dem Schuppen darfst du nicht mähen, verstanden?“
    „Ich weiß, Omi.“
    „Das Rasenstück vor dem Schuppen darfst du nicht mähen“, wiederholte sie stoisch. Ihre Stimme bekam jedes Mal etwas Roboterhaftes, wenn sie über dieses Rasenstück sprach, und es verging kein Freitag, an dem sie mich nicht daran erinnerte. Das Gras vor den Schuppen sei besonders empfindlich, hatte Omi mir erklärt. Dieser Empfindlichkeit zum Trotz hatte es in all den Jahren des ungestörten Wachsens jedoch eine beachtliche Höhe und Dichte erreicht.
    „Keine Sorge“, versicherte ich erneut, „das weiß ich doch.“
    „Du bist ein guter Junge, Dodo“, flüsterte Omi. Sie sah aus, als sei sie mit offenen Augen eingeschlafen – oder ihre Mimik ins Koma gefallen. Erst als im Haus das Telefon klingelte, erwachte ihr Gesicht wieder zum Leben. „Das sind bestimmt die Leute von den Stadtwerken …“, sagte sie abwesend und erhob sich mit einem Ächzen.
    Das Telefon verstummte nach dem fünften oder sechsten Klingeln. Kurz darauf rief Omi: „Dodo!“
    „Ja?“, rief ich zurück ins dunkle Wohnzimmer.
    „Das Gespräch ist für dich.“
    „Für mich?“, fragte ich, einmal leise und dann noch einmal laut für Omi im Wohnzimmer. Es kam nicht häufig vor, dass mich jemand anrief, was aber auch völlig in Ordnung war, da ich allgemein nicht besonders gerne telefoniere. Man weiß ja nie so genau, wer da am anderen Ende ist.
    „Für mich?“, fragte ich ein drittes Mal, aber Omi antwortet nicht. Wahrscheinlich hatte sie mich nicht verstanden – ihre Ohren waren nicht mehr die Besten –, also stand ich auf und ging hinein.
    „Das ist der Mann von den Stadtwerken“, flüsterte Omi aufgeregt. Sie stand bei der Kommode, den Telefonhörer mit beiden Händen umschlungen. „Er will dich sprechen.“
    „Wieso denn mich?“, flüsterte ich zurück und spürte ein unangenehmes Kribbeln in mir aufsteigen. „Und warum überhaupt?“
    Die Schultern von Omis Strickjacke warfen Falten. „Das hat er nicht gesagt.“
    Ich überlegte. „Aber so was sagt
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