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Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
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Eisfriedel

    Der Steinbrücker Teich war so groß wie ein Schwimmbecken und nicht sehr viel tiefer als eine Badewanne. Wie beinahe jeden Sommer waren weite Teile des Gewässers mit einer klebrigen Schicht aus Algen überzogen, welche einen unangenehm süßlich-modrigen Geruch verströmten. Trotzdem erfreute sich der Steinbrücker Teich großer Beliebtheit bei Jung und Alt, was sicherlich damit zusammenhing, dass er das einzige nicht-fließende Gewässer im Umkreis von etwa zehn Kilometern war.
    Die Holzbänke und der schmale Kiesweg, der den Teich umrundete, waren voller Menschen. Vom angrenzenden Spielplatz schallte Kinderlachen herüber, und in den Wipfeln der Eichen zwitscherten Vögel. Ich stand an der Straße, die Hände auf meine Knie gestützt, beobachtete interessiert das Muster, das meine Schweißperlen auf den Asphalt tropften, und überlegte, ob ich mich gleich hier übergeben sollte. Da dies jedoch einen weiteren Flüssigkeitsverlust bedeuten würde, entschied ich mich vorerst dagegen. Mühsam richtete ich mich auf, schnaufte einige Male tief durch und verkündete: „Wir sind da …“
    „Sehr gut“, sagte Strom-Tom. „Siehst du? Geht doch! Alles eine Frage der Einstellung.“
    „Und jetzt?“
    „Steht da irgendwo die Eis-Friedel?“
    „Wer?“ Der Atem rasselte laut in meinen Lungen, so dass ich höchsten jedes zweite Wort verstand, das aus meinem Bauch kam.
    „Die Eisfriedel. Ich denke, du warst schon mal hier! Die Eisfriedel und ihr Bus stehen seit zwanzig Jahren am Steinbrücker Teich!“
    Der weiße Transporter mit dem großen Seitenfenster und der subtilen Aufschrift Eis, Eis, lecker, lecker! parkte in zweiter Reihe.
    „Ich sehe ihn“, keuchte ich kraftlos.
    „Gut. Dann kauf dir ein Eis! Mir ist warm.“
    „Ich hab … gar kein Geld dabei“, hechelte ich.
    „Du brauchst auch kein Geld, du hast mich. Ich regele das.“
    „Eine Flasche Wasser wäre mir lieber …“
    „Meinst du, ich mach das hier zum Vergnügen?“, fragte Strom-Tom.
    Er klang ziemlich gereizt, also ging ich zum Eiswagen hinüber und stellte mich ans Ende der Schlange hinter einen dicken Jungen mit einem Spiderman-Shirt.
    „Also, pass auf“, flüsterte Strom-Tom. „Wenn die Frau dich fragt, welche Sorte du möchtest, dann machst du einfach nur den Mund auf. Ich rede dann für dich.“
    Ich stutzte. „Aber das …“ Ich stutzte noch mal. „Aber das funktioniert doch niemals! Das merkt die doch!“
    „Du hast die Wahl“, entgegnete Strom-Tom ruhig. „Entweder Erdbeere und Zitrone in der Waffel – oder Stromschläge.“
    „Okay …“
    Der dicke Junge drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war voller Sommersprossen.
    „Wie lange dauert das denn?“, fragte Strom-Tom. „Diese verdammten Gören brauchen auch immer Stunden, um sich was auszusuchen!“
    Die Augen des Jungen weiteten sich, sein Mund klappte bis zum Anschlag auf. „Wie machen Sie das?“
    „Dodo?“, fragte Strom-Tom aus meinem Bauch. „Hey, Dodo! Bist du eingeschlafen?“
    „Kann jetzt nicht“, zischte ich, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen.
    „Wie machen Sie das?“, fragte der Junge wieder und glotzte mich seinerseits an. „Ihre Lippen haben sich überhaupt nicht bewegt!“
    „Das ist ein Geheimnis“, sagte ich, doch damit gab sich der Junge nicht zufrieden. „Alle Erwachsenen können das“, fügte ich hinzu.
    Die Schlange rückte weiter. Der Junge ging rückwärts, um mich weiter anstarren zu können. Wahrscheinlich hoffte er auf eine erneute Unterhaltung zwischen mir und meinem Bauch. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, legte den Kopf in den Nacken, als würde ich nach Unwetterwolken Ausschau halten und schwitzte munter vor mich hin, bis ich vor dem breiten Fenster des Eiswagens stand.
    „Hallo!“
    Die Eisfriedel war eine dürre Frau unbestimmten Alters, die so aussah, wie ich mich fühlte: ausgetrocknet. Ihre Haut erinnerte an helles Leder, ihre Lippen waren zwei blasse, dünne Schlangen. „Was darf‘s denn sein?“
    Wie abgesprochen öffnete ich den Mund und überließ Strom-Tom das Reden: „Grüß Gott, Eisfriedel!“, schallte es meine Speiseröhre herauf. „Ich hätte gerne ein schönes, leckeres Eis.“
    „Kennen wir uns?“, fragte die Eisfriedel. „Deine Stimme kommt mir so bekannt vor.“
    „Das höre ich oft“, antwortete Strom-Tom aus meinem Mund. „Ich hätte gerne Erdbeere und Zitrone in der Waffel.“
    Die Eisfriedel lehnte sich über den Verkaufstresen und kniff prüfend ihre Augen zusammen, was dazu
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