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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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Gegenteil: Ich habe weiter meinen Beruf ausgeübt, habe meine Familie versorgt, meinen Freunden und Mitmenschen von meinem Versuch erzählt, und sie, insbesondere mein Mann und meine zwei Kinder, haben wachen Auges an meiner Entwicklung teilgenommen. Es ging mir dabei keineswegs darum, schnelles Denken, Handeln oder Agieren grundsätzlich zu verdammen. Im Gegenteil: Wer gern rasch arbeitet und dabei viel schafft |14| und sein Tagwerk in gebotener Geschwindigkeit verrichten möchte, wem langsames Vorgehen schlichtweg zu langweilig ist, dem sei ein kraftvolles Voranstürmen nicht genommen. Jeder hat schließlich seinen eigenen Energiepegel. Es ging mir erst recht nicht darum, Zeit einzusparen, um sie an anderer Stelle gewinnbringend zu nutzen und so die eigene Effizienz und Wirtschaftlichkeit zu steigern. Was mir am Herzen lag, war der Gedanke, dass Leistung nicht anhand der Schnelligkeit gemessen wird, mit der sie erbracht wurde, und schon gar nicht an der Menge der Artikel, die in möglichst kurzer Zeit gefertigt wurden. Denn bei diesem Prozess sind wir nicht nur Opfer, sondern auch Mittäter. Solange ich versuche mitzuhalten, nehme ich nicht nur mir selbst, sondern auch anderen die Chance, das Tempo zu verringern. Ich nehme mir die Möglichkeit, die eigentliche Qualität meiner Arbeit wahrzunehmen und sie mit Stolz und Freude zu Ende zu bringen. Erinnert sei an Uhren-, Schmuck- oder auch Gebäck- und Kuchen-Manufakturen, in denen ausdrücklich Handgefertigtes produziert wird. Was hier zählt, ist die Besonderheit der erbrachten Leistung. Sie genießt mindestens eine so große Wertschätzung wie das eigentliche Endprodukt.
    Fast jeder, dem ich von meiner Idee erzählte, wusste auf Anhieb, was ich meinte. Die Hektik, diese Geschwindigkeit, die immer noch zunehme, wurde mir mit eifrigem Kopfnicken bestätigt, dazu die vielerlei Technik, die das noch verstärke – schlimm sei das. Am ärgsten, meinten viele, sei der immense Druck, der dadurch entstanden sei. Eine Journalisten-Freundin erzählte mir, wie glücklich sie zu Beginn mit ihrer Berufswahl gewesen sei, aber das sei schon lange nicht mehr so. Heute noch würde sie gern |15| recherchieren, telefonieren, mit Menschen reden, Artikel schreiben – all das tun, was zu ihrer Arbeit gehört. Aber der Zeit- und Leistungsdruck, unter dem sie inzwischen arbeiten müsste, sei unerträglich. Er würde inzwischen alles Erfüllende an ihrem Beruf überschatten.
    Eine andere Kollegin erzählte mir, quasi hinter vorgehaltener Hand, dass sie mittags nicht mehr in die Kantine gehen würde. Sie ertrage die Geschwindigkeit, in der dort das Essen verteilt und verzehrt würde, nicht. So schnell könne sie einfach nicht essen. Lieber bliebe sie in der Mittagspause an ihrem Schreibtisch sitzen und löffle geruhsam das Müsli aus einer kleinen Plastikbox, das sie sich jeden Tag von zu Hause mitbrächte. Allerdings käme sie sich dabei ein wenig unsozial vor.
    Am schwierigsten an meinem Versuch war in der Tat der soziale Aspekt. Ich musste lernen, mich abzugrenzen und die ruhigeren Zeiten, die ich gewonnen hatte, nicht kurzerhand wieder zu nutzen, um doch noch wieder ein paar eilige Dinge zu erledigen, sozusagen rückfällig zu werden. Frauen leben nun einmal verstärkt im Austausch mit ihren Freundinnen und nächsten Mitmenschen. Sie sind in ihrem natürlichen sozialen Umfeld in einer Form verankert, die weit über berufliche oder andere sachliche Belange hinausgeht. Selbst wenn eine liebe Freundin anrief, um sich spontan mit mir zu verabreden, musste ich also standhaft bleiben, ihr absagen und die Gelegenheit zu einem Wiedersehen ungenutzt verstreichen lassen. Solche Gelegenheiten auszulassen, obwohl ich auf einmal Zeit hatte, sie wahrzunehmen – das fiel mir am allerschwersten. Aber ich wusste genau, dass ich am nächsten Tag wieder früh rausmusste, meine diversen Verpflichtungen hatte und auch in den Stunden, die hinter mir |16| lagen, viel passiert war. Wie gern hätte ich so einen Termin trotzdem rasch dazwischengezwängt. Um mit solchen Situationen fertigzuwerden, habe ich mir Paradesätze zurechtgelegt, Formulierungen wie: »Ich glaube, das schaffe ich nicht.« Damit habe ich dem anderen vermitteln können, dass ich mit meinen Kräften am Ende war und keinen Spielraum mehr hatte, und konnte Raum gewinnen. Gleichzeitig hat mich das daran erinnert, was ich mir vorgenommen hatte.
    Schwer fiel mir auch, langsam zu sein, wenn ich allein mit mir war. Unter dem Druck meiner Umgebung
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