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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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bis dorthin. Sobald wir dieses Hier und Jetzt |19| nicht unter Kontrolle haben, empfinden wir keine Sicherheit. Wer langsamer geht, kann den Blick heben und in die Ferne schauen. Er sieht Dinge, die ihm zuvor gar nicht aufgefallen wären. Er wird weitsichtig. Die Sorgen schwinden. Versuchen Sie es selbst!

|21| 1. VON HUNDERT AUF NEUNZIG:
BEWEGUNG
    Gehen statt rennen. Fahren statt rasen. Warum müssen wir uns immer so schnell von einem Ort zum anderen bewegen, warum uns bemühen, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein? In der ersten Phase meines Selbstversuches werde ich mich deutlich langsamer fortbewegen.

 
    |23| Eigentlich habe ich es zu meinem Arbeitsplatz nicht weit. Ich kann mir meine Zeit als Freiberuflerin selbst einteilen, und mein Büro ist nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Trotzdem stürme ich jeden Morgen, sobald ich die Kinder in die Schule gebracht habe, wie von der Tarantel gestochen an meinen Schreibtisch. Ich könnte ja einen wichtigen Anruf versäumen, womöglich eine E-Mail zu spät beantworten und dann erst recht keine Zeit mehr haben, den Text, an dem ich gerade sitze, weiterzuentwickeln. Auch mit dem Fotografen muss ich sprechen, der die Porträts von mir für den Klappentext vom Buchcover und die Werbematerialien gemacht hat, und meine Website aktualisieren. Eine Zeitung hatte angefragt, ob honorarfreie Bilder zur Verfügung stünden. Die Journalistin, die den Text dazu geschrieben hatte, musste ich zurückrufen, ganz zu schweigen von den unzähligen Kleinigkeiten, die für meine Kinder zu organisieren waren. Keine Zeit, keine Zeit.
    Ich renne den Weg entlang zu dem Berliner Mietshaus, in dem sich mein Büro befindet, stemme mich gegen das hohe Eingangstor aus schwerem Holz und laufe durch die Einfahrt. Mein Rücken ist verspannt, die Stirn tief in Falten gelegt, der Nacken hart wie ein Brett. Ich bin in Kampfstimmung, noch bevor die Arbeit überhaupt begonnen hat. Durch mein Hirn rasen die Fakten, die ich in meiner Mail gleich aufzählen will. Meine Lippen formulieren lautlos das zweite Kapitel des Manuskripts, an dem ich gerade arbeite. Hinzu gesellt sich ein knurrender |24| Magen. Wie immer bin ich dem Irrglauben erlegen, ein Frühstück könnte ich mir angesichts meiner angespannten beruflichen Situation nicht leisten. Mehr als zwei Tassen grünlich schimmernden Kräutertees habe ich mir in der Früh nicht gegönnt. Und das alles, obwohl kein Mensch kontrolliert, ob ich die Erste am Arbeitsplatz bin. Keiner prüft nach, wie viele Stunden und zu welcher Tageszeit ich meine Tätigkeit verrichte.
    Bis in das Hinterhaus, in dem sich meine Arbeitswohnung befindet, sind es nur wenige Schritte. Ich laufe die Treppen hinauf, schließe die Tür auf, renne ins Büro und stelle den Laptop auf den Schreibtisch. Hektisch setze ich in der Küche Wasser auf, gehe zurück ins Arbeitszimmer, schalte das Licht ein und setze gleichzeitig Computer, Drucker und Faxgerät in Gang. Mit Getöse starten die Maschinen. Der gerade noch so stille Raum ist plötzlich lärmerfüllt.
    Kaum ist der Computer hochgefahren, habe ich in meinem Adressprogramm die Telefonnummer gefunden und greife auch schon zum Hörer. Inzwischen zittern meine Hände, so unterzuckert bin ich. Allein das Geräusch des Wassers, das angefangen hat zu kochen, hält mich davon ab, gleich die Nummer zu wählen. Ich gehe in die Küche und gieße mir erst einmal einen Kaffee auf. Der wird auch meinen Hunger stillen.
    Warum muss ich eigentlich immer so rasen? Warum muss ich immer die Schnellste von allen, immer an vorderster Stelle sein? Selbst wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, fahre ich, nach Möglichkeit, so schnell ich kann. Eine Ampel, die auf Gelb schaltet, ist für mich eine glatte Herausforderung. Ich verlangsame mein Tempo nicht etwa und bremse allmählich ab, sondern trete erst |25| recht in die Pedale. Ich möchte unbedingt noch über die Kreuzung kommen, bevor es Rot wird.
    Das ist sogar meinem Mann zu viel. Er heißt Schrat, ist Künstler, und obwohl er wesentlich größer ist als ich, athletisch und kräftig gebaut, würde er sich nie so schnell fortbewegen, wie ich es tue. Erst neulich radelten wir – es war Abend und draußen längst dunkel geworden – gemeinsam zu einer Ausstellungseröffnung in der Akademie der Künste. Von Berlin-Mitte führt entlang der Spree ein malerischer Fahrradweg dorthin. Um diese Uhrzeit ist er kaum befahren. Passagierschiffe schippern in einigem Abstand auf dem Wasser vorüber, von
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