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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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schneller. Während das Durchschnittstempo früher bei 100 oder 110 Stundenkilometern lag und man mit 120 geradezu raste, war diese Geschwindigkeit auf einmal normal. Die meisten, ja, man muss sagen, fast alle fuhren 140 oder gar 180. Es war ein Schock. Ich fühlte mich, als sei ich plötzlich in einem fremden Land. Selbst schwere Transporter rasten seelenruhig mit Tempo 140 über die Autobahn.
    Auch das Fahrverhalten hatte sich drastisch verändert. Während man früher sanft mit der Lichthupe verscheucht worden war, wurde ich jetzt einfach rechts überholt. Die Fahrer näherten sich in rasendem Tempo auf der Überholspur, blinkten kurz auf, und wenn ich nicht sofort auswich, fuhren sie mit unverminderter Geschwindigkeit auf der rechten Spur an mir vorbei. Es war beängstigend. Wenn ich mich, zurück vom Tanken oder von einem Rastplatz, wieder in den normalen Verkehr einordnen musste, kam ich kaum mehr auf die Autobahn. Die Fahrer ließen mich einfach nicht hinein, als führen sie im Kreisverkehr einer Großstadt. Bisweilen kam ich auf der Zufahrt zum Stehen und musste ausharren, bis die Straße ganz frei war. Höchstens Lastwagenfahrer brachten bei solchen Gelegenheiten den Mut auf, in die Überholspur zu wechseln, den übrigen Verkehr auszubremsen und mich freundlich winkend zurück auf die Autobahn zu lassen.
    Am schlimmsten war das Verhalten auf den neueren Autobahnen, die erst im Zuge der Wende entstanden oder ausgebaut worden und vielen Fahrern noch unbekannt |29| waren. Auf der Rückfahrt von den Osterferien, die wir bei Verwandten im Südwesten am Neckar verbracht hatten, fuhr ich mit den Kindern über die A 71. Diese Autobahn wurde eigens in den neunziger Jahren erschlossen und gilt mit zehn Millionen Euro pro Kilometer als eine der teuersten Straßen, die in Deutschland je gebaut wurden. Sie führt quer durch den Thüringer Wald und ist traumhaft schön. Über lange Strecken geht es für die Autofahrer steil bergauf, um sie dann in weiten Serpentinen ganz allmählich wieder talwärts zu geleiten. Rechts und links wechseln sich, so weit das Auge reicht, dicht bewaldete Höhen mit wenigen Ackerflächen ab. Man hat eine wunderbare Aussicht.
    Um die Höhenunterschiede auszugleichen, sind für die A 71 zahlreiche Tunnel gebaut worden. Einige von ihnen sind selbst für europäische Verhältnisse ungewöhnlich lang. Einer misst knapp achttausend Meter und ist der längste Straßentunnel Deutschlands. Nach dem Gran-Sasso-Tunnel, dem Plabutschtunnel sowie dem Seelisbergtunnel in der Schweiz und Italien gilt er als der viertlängste zweiröhrige Straßentunnel Europas. Auch der drittlängste Tunnel Deutschlands befindet sich auf dieser Strecke. Er wurde nach dem Berg Bock benannt und misst fast dreitausend Meter.
    Gerade die Tunneldurchfahrten waren für die Kinder und mich besonders aufregend. Normalerweise sieht man, kurz nachdem man in so eine Unterführung hineingefahren ist, auch schon ihr Ende und folgt hoffnungsfroh dem Tageslicht. Nicht so auf der A71. Hier sind die Tunnel wie Stollen. Der Ausgang, das tröstlich-helle Rund, das einen zurück in den Tag geleitet, ist lange Zeit überhaupt nicht auszumachen. Meine Kinder fanden das |30| ungeheuer spannend. Jedes Mal, wenn wir wieder in einen Tunnel hineingefahren waren, spielten wir, dass wir nie wieder aus dieser dunklen Tiefe herausfinden würden. Wir stellten uns vor, wie es wäre, für immer unter der Erde zu hausen. Ob unsere Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnen und bald gar kein Licht mehr brauchen würden? Vielleicht würden wir nach einigen Wochen gar nicht wieder ins Helle zurückwollen. Ob uns der Rest der Welt hier unten bald vergessen hätte? Wer von uns dreien als Erster Tageslicht entdeckte, kündete es lauthals an. Was für eine Freude, wenn wir endlich wieder im Freien waren! Draußen schien die Sonne, wir lachten und jubelten überschwänglich, benahmen uns wie Bergleute, die aus einem eingestürzten Stollen befreit worden waren.
    Doch plötzlich war es mit der fröhlichen Stimmung vorbei. Wir fuhren gerade durch den Rennsteigtunnel und konnten den Ausgang schon sehen. Da die Straße auch innerhalb des Tunnels recht steil verläuft, fuhr ich nicht sonderlich schnell. Es werden vielleicht achtzig Stundenkilometer gewesen sein, was übrigens auch der Geschwindigkeitsbegrenzung entsprach. Auf einmal ertönte hinter mir ein grässliches Hupen, so laut, dass alles um uns herum vibrierte. Verschreckt sah ich auf, blickte in den
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