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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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hatte ich eine solche Eiligkeit entwickelt, dass ich gerade dann besonders hektisch wurde, wenn ich eigentlich zu Hause zur Ruhe kommen wollte. Dann fing ich plötzlich an, Schränke auszuräumen, um die Regalböden zu putzen, oder Visitenkarten zu sortieren. Oder ich überlegte fieberhaft, wen ich noch anrufen müsste oder ob ich nicht dringend ins Kino gehen müsste. War da nicht ein Film, den ich unbedingt sehen wollte?
    Zu Beginn meines Selbstversuches war ich gar nicht in der Lage, mich langsam zu bewegen oder etwas langsam zu tun. Ich konnte vor allem nicht langsam essen. Schließlich stellte ich einen Wecker neben meinen Teller und überprüfte, wie lange ich für eine Mahlzeit brauchte. Ich legte bewusst Mußestunden ein und blieb stundenlang an ein und demselben Ort sitzen, tat nichts oder bewegte mich wie eine Schnecke durch die Wohnung. Dann telefonierte ich nicht, schrieb keine SMS, las keine E-Mails, rief gar nicht erst das Programm auf, über das ich meine E-Mails bekomme. Wenn das Telefon klingelte, hob ich nicht ab. Das Mobiltelefon stellte ich aus. Ich wahrte Ruhe.
    |17| Der Zustand, in den ich dadurch geriet, fühlte sich absolut fremd an. Ich hatte das Gefühl, krank zu werden, kam mir retardiert und alt vor. So muss es sein, dachte ich, während ich aus dem Fenster sah, wenn man eine Depression hat. So muss sich die Antriebslosigkeit anfühlen, die melancholische Menschen regelmäßig überkommt. Dabei ging es mir blendend. Ich empfand keine Schmerzen und war kerngesund. Welche Absurdität: Sobald meine Tage nicht randvoll ausgefüllt waren, ich nicht mindestens drei Sachen gleichzeitig erledigte und zwanzig Vorhaben hintereinander abarbeitete, wenn ich nicht ununterbrochen durch den ganzen Tag rannte, dann fühlte ich mich prompt krank.
    Überraschend waren die vielen positiven Reaktionen. Ich erinnere mich an die Erleichterung des Klempners, der in unserem Bad die Wasserleitung reparieren sollte, als ich ihm an einem Donnerstag verkündete, er müsse nicht gleich am nächsten Tag kommen. Es würde durchaus reichen, wenn er erst nächsten Montag käme. Ich merkte, wie er am Telefon hörbar aufatmete: »Sie haben es wohl nicht eilig?«, fragte er erstaunt. Nun, ich muss zugeben, dass ich keinen Wasserrohrbruch zu beklagen hatte. Auch die Waschmaschine funktionierte noch. Lediglich die Toilettenspülung leckte, und das nur so geringfügig, dass man den Schaden mit Hilfe eines Putzlappens vorübergehend beheben konnte. Doch am liebsten hätte ich ihm vergnügt ein »Nein« zugerufen: »Nein, ich mache einen Selbstversuch. Eile ist ein Fremdwort für mich geworden. Meinetwegen können Sie erst in zwei Wochen kommen. Das würde auch noch reichen.« Aber ich fürchtete, dass er mich dann für verrückt erklärt hätte.
    Oder die Freundin, der ich meinerseits und sehr kurzfristig |18| eine Verabredung absagen musste: Wir hatten uns auf einen Kaffee treffen wollen. Sie reagierte mit ähnlich großer Erleichterung wie der Klempner. Sie habe zur Zeit so viel zu tun, dass sie nicht mehr gewusst habe, wie sie unsere Verabredung hätte halten sollen.
    Ich hatte Sorge, durch meine Verlangsamung den Kontakt zu meinen Freunden zu verlieren. Ich fürchtete umziehen zu müssen, weil die Welt, in der ich lebte, grundsätzlich so hektisch war. Zudem fürchtete ich um meine Existenz. Als freiberufliche Autorin ist man stärker auf die Kommunikation mit Kollegen, Öffentlichkeit und potentiellen Auftraggebern angewiesen als Festangestellte. Was wäre gewesen, wenn mir wegen meiner Absagen wichtige Aufträge und Kontakte durch die Lappen gegangen wären und ich zu wenig Geld verdient hätte?
    Aber nichts davon trat ein. Es war alles eine Frage der Perspektive. Wer langsamer leben möchte, muss sich angewöhnen, in größeren Zeitabschnitten zu denken. Er muss sich von der hektischen Carpe-diem-Mentalität verabschieden, dem Zwang, jedem Tag unbedingt etwas überdurchschnittlich Aufregendes oder Effektives abgewinnen zu können. Er schaut sich sein Dasein in der Gesamtheit an und erkennt, dass er darin grundsätzlich etwas ändern muss.
    Ein typisches Wesensmerkmal von Schnelligkeit ist, dass wir gezwungen werden, den Blick zu senken und unentwegt auf unsere Füße zu schauen, damit wir in der Eile nicht stolpern und hinfallen. Wir haben ständig nur den Schrittmesser vor Augen, der unmittelbar vor uns liegt. Wir haben den einzelnen, aktuellen Tag im Kopf, den nächsten Termin, den Streckenabschnitt oder die kurze Frist
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