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Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Titel: Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
Autoren: Nagel & Kimche AG
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am 4. August 2009, Domingos’ fünfundfünfzigster Geburtstag, er stellt die schmale Tasche zwischen die Füße, bleibt stehen im Gang und wartet, bis die Reise beginnt.
    Die bin ich ihm schuldig, denkt er.
    In manchen Nächten liegt Chico vor ihm, tot und lebendig zugleich, und zeigt auf sein Loch in der Stirn, Manoel Francisco Silva Souza, geboren am 13. Oktober 1972, Goldzahn genannt, weil er einen Goldzahn hatte, groß und leuchtend, Chico Dente de Ouro. Am Abend, bevor sie kamen mit Gewehren und Benzin – am 1. Februar 2009 morgens um sechs – hatte Chico geweint: Eines Tages werde ich sterben für dieses bisschen Land – doch zuvor hole ich meine Mutter hierher, damit sie sieht, wie gut es mir geht.
    Seine Mutter, weinte er, lebe in Pedreiras, drüben in Maranhão, fünfhundert Kilometer entfernt, wahrscheinlich noch mehr.
    Als meine Mutter, erzählte Domingos seinem Freund zum Trost, als meine Mutter sah, dass sie nicht mehr lange leben würde, rief sie nach mir und sagte: Dominguinhos, mein Kleinster, nur diesen Wunsch habe ich noch. Brich mit deiner Gewerkschaft! Die Großen sind zu groß für dich, und irgendwann machen sie dich tot. Versprich mir, dass du aufhörst mit deiner Gewerkschaft! Ich saß am Bett meiner sterbenden Mutter und sagte: Jeden Wunsch erfülle ich dir, nur diesen einen nicht, weil ich nicht kann.
    Der Bus hält ostwärts über müden Asphalt, die PA263, Schlagloch auf Schlagloch, aus Lautsprechern schallen fromme Lieder, o gib mir Kraft, Senhor, damit ich verstehe, wo mein Platz ist, nimm mein Herz und behüte mich in dieser grausamen Welt, damit ich nicht abkomme vom rechten Weg.
    Domingos, die gebügelte Hose am Bein, die feinen schwarzen Schuhe, steht und schweigt im Bus nach Pedreiras, Maranhão, es ist längst hell.
    Am 10. Dezember 2008, gebilligt vom Nationalen Institut für Kolonisierung und Agrarreform, Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária, Incra, führte Domingos Alves da Silva vier Dutzend Landarbeiter und ihre Familien, alle ohne Haus und Boden, auf ein weites Stück Land, achtunddreißig Kilometer hinter Breu Branco, das zwei Großgrundbesitzer, obwohl vom Staat dafür entschädigt, weiterhin ihr Eigentum nennen. Die Landlosen bauten Hütten aus schwarzem Plastik, beluden sie, um Wind und Hitze zu trotzen, mit Palmblättern und teilten das Land, wie der Staat Brasilien es vorsieht, in Parzellen zu fünfzig Hektar auf, nannten den Ort nach der heiligen Jungfrau des Ewigen Beistandes, Perpetuo Socorro. Domingos blieb weiterhin in Breu Branco in seinem hölzernen Verschlag, Rua São João 92, wo eines Abends ein junger Mann stand, am Zaun rüttelte und rief, er komme von weit her und habe gehört, hier in der Nähe erhalte, wer keins habe, ein Stück Boden, er heiße Manoel Francisco Silva Souza, lieber höre er auf den Namen Chico Dente de Ouro.
    Goldgräber?, fragte Domingos, der selten lacht.
    Wie man sehe, sagte Chico, doch statt Huren oder Kettchen habe er einen ewigen Zahn gekauft.
    Ausweise?, fragte Domingos.
    Wählerausweis Nummer 0286 2169 1171, Steuerausweis Nummer 001 099 463-75.
    Jetzt ist es kurz nach neun am 4. August 2009, der Bus der Gesellschaft Boa Esperança, Frohe Hoffnung, hält in Jacundá, wenige Häuser und roter Staub, Lastwagen stehen an der Straße, überladen mit Holz oder Kohle, Domingos kauft eine Flasche Wasser zu fünfzig Centavos und trinkt sie leer in einem Zug. Dann spricht er wenige Sätze in sein Telefon und stellt sich in die Kneipe, wartet und schaut zum Fernseher hoch, Reklame für Präservative, die Predigt eines Bischofs, Lottozahlen. Endlich fährt ein Auto vor, ein junger Mann darin, Domingos öffnet die Tür.
    Dein Vater schickt dich?, fragt er.
    Du bist Dominguinhos?, fragt der Junge.
    Sie fahren ans Ende des Dorfes, queren Pfützen aus Pisse und Dreck und halten vor einer rosa Hütte, ein Billardtisch davor, zwei Hunde, ein Stapel Stühle aus rotem Plastik. Das Haar gefärbt, den Mund fast zahnlos, tritt ein alter Mann aus dem Haus, er lacht sehr laut und reicht Domingos die Hand, setzt sich dann auf den Stapel roter Stühle.
    Er sei, sagt Domingos, unterwegs zu Chicos Mutter.
    Und was willst du von mir?, fragt der Alte.
    Dass du mir noch einmal erzählst, wie Chico starb.
    Um sechs Uhr am Morgen, 1. Februar 2009, ein Sonntag sei es gewesen, habe plötzlich ein Lärm begonnen, sieben Männer, Auftragsmörder, jeder mit einem Gewehr, hätten die Landlosen aus ihren Zelten getrieben und ihnen befohlen, sich auf
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