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Altern verboten

Altern verboten

Titel: Altern verboten
Autoren: Jo Zybell
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    Manchmal, wenn sie lange genug ins Eis starrte, geschah es, daß sich eine Grotte in der Eiswand öffnete. In solchen Momenten sah sie eine andere Welt, eine Welt jenseits des Eises: blauer Ozean, weiße Strände, Regenwälder und Flußmündungen an flachen Küsten. Wenn sie ihrem Vater davon erzählte – und das tat sie häufig –, lächelte er, nahm sie in die Arme und sagte: »Die Bilder, die ich in deinen Kopf gepflanzt habe, bringen das verfluchte Eis zum Schmelzen.« Er sprach dann immer mit heiserer Stimme.
    Auch an jenem Morgen, dem ersten des Plans und ihrem letzten auf Genna, geschah es wieder: Im grauen Eis, hundertzwanzig Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Schachtwand, strahlte eine gelbe Sonne über blauem Meer; eine Sonne, die sie nie gesehen hatte, über einem Meer, das sie nur aus den Beschreibungen ihrer Eltern kannte.
    Ich komme. Stumm bewegte sie die Lippen. Ich komme zu dir …
    »Code vierundzwanzig eins vierundfünfzig alpha«, sagte ihr Vater, während das Tor sich hinter ihnen senkte und die letzten Scheinwerfer an den Querstreben über ihnen aufflammten. Er trug eine silberfarbene ISKK unter seinem Helm, vielleicht seine wichtigste Waffe an diesem Tag. Venus mußte daran denken, daß er fünf Jahre an der ISK-Kappe gearbeitet hatte.
    An dem Plan hatte er gearbeitet, seitdem sie lesen konnte.
    »Achtzehn Omegafrachter auf den Landeplätzen.« Der kugelförmige Kommunikator gab die entschlüsselte Form des Codes wieder. »Je drei neben jedem Schacht. Wir bringen die Container wie üblich an Bord der Omegafrachter.«
    »Richtig.« Ihr Vater nickte. Der hochgewachsene Mann trug einen unförmigen Ganzkörperanzug aus schwarzem Kunstleder, der ihn noch breiter und grobknochiger aussehen ließ, als er sowieso schon war. An seiner Schulter hing ein Laserkaskadengewehr, auf seinem Rücken eine altertümliche Kompressionspatrone mit Standardatemgasgemisch, auf seiner Brust baumelte die Atemmaske. »Code vierzwanzig eins vierundfünfzig beta«, forderte er. Wie einer jener Barbaren, denen die Republik die Raumfahrt untersagt hatte, sah Uran Tigern aus, und nicht wie ein Mann, der einst in Para-Astrophysik promoviert und im Rang eines Primoberst einen Flottenverband kommandiert hatte.
    »Begutachtung des Rohstoffs durch den Kommandanten und die Frachterkapitäne«, sagte der Kugler. »Verhandlungen über Volumen und Tauschware.« Das Kunsthirn sprach mit einer sanften, einschmeichelnden Stimme.
    »Richtig. Und wie gehst du vor? Code vierundzwanzig eins vierundfünfzig gamma und delta …« Während ihr Vater ein letztes Mal mit dem Primkugler den Plan durchging, beobachtete sie die Gesichter der anderen. Unter den Alten die beiden Brüder ihres Vaters, Plutejo senior und Sarturis, und ihre Getreuen; dann die Patriarchen der Vegas- und der Insulasippe samt ihren Eidmännern und -frauen; dahinter die Mütter und Väter der namenlosen Sippen, und schließlich die Männer und Frauen, die keiner Sippe angehörten, nicht einmal einer Familie, die um keine Kinder und Kindeskinder bangen mußten und um keine Zukunft. Lauter bläuliche Gesichter, lauter ausgemergelte und von den Mühen der Arbeit gebeugte Gestalten, viele schon Greise, und alle auf irgendeine Weise bewaffnet.
    Unter den Jungen standen ihre drei Schwestern Lune, Alya und Pluteja, ihre drei Brüder Alvan, Nepuk und, wie meist Seite an Seite mit der zierlichen Mutter, Plutejo junior. Er war der jüngste und zugleich größte – größer und breiter noch als sein Vater, kräftiger als seine älteren Brüder. Sein von der Droge aufgedunsenes Gesicht hatte schon einen Blaustich, wie das eines Alten. In seinen Zügen duckten sich Haß und Leidenschaft zum Sprung.
    Auch viele ihrer Altersgenossen hatten sich heute aus dem Labyrinth gewagt, manche zum erstenmal. Einige waren längst selbst Väter und Mütter. Diese hatten darauf bestanden, ihren Nachwuchs mitzunehmen, wenn es soweit war. Uran Tigern gestattete es, war sogar froh, daß sie diesen naheliegenden und von ihm und dem Freiheitsrat durchaus einkalkulierten Schritt aus eigenem Antrieb gehen wollten. Und war es nicht wirklich gnädiger, die Kleinen rasch in den Feuerkaskaden der Republikaner sterben zu lassen als jahrzehntelang in den Bergwerken unter dem Eis?
    Und schließlich gab es da noch diejenigen, die Venus Tigern einst gepflegt und gehütet hatte, als sie noch Säuglinge waren: halbwüchsige Jungen und Mädchen, die einen erst dreizehn, andere sechzehn oder siebzehn
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