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Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)

Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)

Titel: Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
Autoren: Achill Moser , Wilfried Erdmann
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irgendwie unentwegt auf Reisen zu sein. Verständlich nach Jahren, in denen man eingemauert war. Jedenfalls war der Sommer der Vereinigung sehr spannend. Komm, lass uns einen roten Holundersaft bestellen. Der ist hier im Fährhaus hausgemacht und erinnert mich sehr an meine Jollenreise. Alles schien dort auch hausgemacht. Das Essen, die Früchte, der Schnaps, die Boote, die Segelvereine. Das Leben im Osten war bis zum Mauerfall sehr bodenständig. Man hatte Gemüsegärten, ein Hausschwein, Hühner sowieso. Der Natur ist das gut bekommen. Auf meiner Route wucherte sie wild vor sich hin. Der Sozialismus hat der Natur viel gegönnt. Auch für meine Gesundheit war es eine Supertour. Mangels Motor und mangels Wind musste ich auf den Kanälen häufig stundenlang das Vorankommen mit einem Stechpaddel unterstützen. Dass ich mit einem kleinen, reinen Segelboot ohne technische Finessen reiste, hat mir viel Anerkennung im Osten gebracht.
    Moser    Wenn du so vom Unterwegssein schwärmst, bekomme ich richtig Aufbruchlust.
    Erdmann    Sag mal, Achill, gibt es einen Moment während deiner Wüstenreisen, den du besonders schätzt, der dir viel bedeutet?
    Moser    Da fällt mir sofort Ägyptens Wüste Sinai ein, wo ich viele Male unterwegs war. Auf einer dieser Reisen, zusammen mit meinem damals vierzehnjährigen Sohn Aaron, verbrachten wir eine Nacht ganz allein in Schlafsäcken unter freiem Himmel auf dem Gipfel des Mosesberges. Mitten in der Nacht stand Aaron plötzlich auf, trat an den Rand einer Steilwand und streckte seine Arme aus. Er konnte das millionenfache Leuchten des Sternenhimmels kaum fassen und sagte: »Weißt du, Papa, hier oben ist es noch viel stiller als still.« Ein wunderbarer Augenblick, für den ich sehr dankbar bin. Ich glaube, das kannst du gut nachvollziehen, oder?
    Erdmann    Und ob. Aber ich hatte einen ganz anderen Moment, den ich nicht vergessen werde. Es war der 135. Seetag meiner ersten Nonstop-Reise. Im Zwielicht des Morgens, bei Nieselregen und folglich schlechter Sicht wäre es beinahe passiert. Fast wäre ich auf einer winzigen Felseninsel gestrandet, die nördlich von Macquarie liegt. Ich war zwar auf Deckwache, musste aber kurz auf die Toilette unter Deck, und als ich wieder bereit war, lagen die Felsen Judge and Clerk gute 100 Meter vierkant vor dem Bug. Es herrschte ein ordentlicher Wellengang, und ich dachte, was ist das bloß wieder für eine See, als ich erkannte, dass die Wellen sich immer an derselben Stelle brachen. Das gibt es doch nicht, die können uns umdrehen, dachte ich noch … Oh, da sind ja Steine. Mannomann, alles ging dann rasend schnell. Sie sprangen uns förmlich an, so schnell kamen sie näher. Ich hechtete über Deck an die Segel und an die Pinne. Mit etwas mehr als einer Bootslänge Abstand schrammte ich an den Steinen vorbei. Das war knapp. Ich holte tief Luft und sah, dass auf diesen Felsen kein Überleben möglich gewesen wäre. Es war nur blank gewaschener Stein und etwa 20 Meter hoch. Davongekommen zu sein, gab mir fortan Kraft und Freude in kritischen Wettersituationen.
    Moser    Du sprichst von Kraft. Da muss ich an Chinas Westen denken, wo ich in den 1980er Jahren viel Kraft gelassen habe, als ich zu Fuß und per Rucksack 700 Kilometer durch die Wüste Gobi wanderte. Eine Tour, die mir meine Grenzen aufgezeigt hat. Ich habe eine wahre Wechseldusche der Gefühle erlebt: Tage voller irrer Glücksvisionen, dann wieder abgrundtiefe Ängste. Oft habe ich bitterlich geweint, weil ich das Auf-mich-selbst-geworfen-Sein nicht mehr ertragen konnte. Eine Gratwanderung durchs eigene Seelenlabyrinth, die mich ganz schön verändert hat, mich vor allem bescheidener und demütiger gemacht hat.
    Erdmann    Du sprichst beim Wüstenwandern hin und wieder davon, dass deine Seele beim Gehen Schritt hält. Wie kam es zu dieser Erkenntnis?
    Moser    Vor vielen Jahren war ich in der Kaisut Wüste im Norden Kenias unterwegs. In diesem Wüstenland lebt auch das afrikanische Naturvolk der Turkana, bei dem ich mehrere Monate lang lebte. Dort erfuhr ich, dass die Männer, wenn sie längere Strecken zu Fuß hinter sich gebracht haben, kurz vor ihrem Ziel noch einmal haltmachen und einen Moment warten, damit ihre Seele sie einholt. Denn – nur zu Fuß hält die Seele Schritt. Manchmal frage ich mich, ob unsere Welt vielleicht etwas besser funktionieren würde, wenn die Menschen mehr zu Fuß gehen würden; sich entschleunigen und runterkommen von diesem sinnlosen
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