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Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten

Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten

Titel: Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Autoren: Christian Mähr
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staatlicherseits abzulösen und zuzusperren, also – wie heißt das heute? – ja richtig: abzuwickeln. Wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit und falscher Ressourcenallokation und so weiter … Die Pläne blieben Theorie, eine »Treuhand« wurde nicht gebildet.
    Mit der letzten Bemerkung sind wir in der Gegenwart und Zukunft des Zuckers. Was Europa angeht, ist sie zumindest zweifelhaft. Sein gesellschaftliches Image ist mit Jahrhunderten der Sklaverei belastet, sein medizinisches mit Karies und Adipositas und weiteren Übeln, deren Aufzählung ich mir erspare – wer sich gern selber Angst macht, gehe ins Internet. Der fortschrittliche Teil der Menschheit verabscheut den Zucker und erzieht die Kinder zuckerfrei. Zu Weihnachten gibt es beispielsweise spärlich mit Honig gesüßte Dinkelplätzchen, die aussehen wie altgermanische Opferkuchen. Sie schmecken auch so …
    Die Industrialisierung des Zuckers ist sein Spezifikum und sein Verhängnis. Die Verarbeitung des Rohrzuckers auf den Plantagen der Karibik erfolgte nach arbeitsteiligen Abläufen der großen Industrie, die sonst noch nicht existierte. All die einzelnen Prozessschritte des Schneidens, Auspressens, Siedens, Filtrierens, Kristallisierens müssen zeitlich genau abgestimmt sein, sonst misslingt die Produktion. Wenn das Zuckerrohr reif ist, muss es ausgepresst werden, der Saft sofort weiterverarbeitet, er verdirbt sonst. Man bildete sich sogar ein, auch das Sieden dürfe, einmal begonnen, nicht unterbrochen werden, das war ein tragischer Mythos. Diese ganzen Umstände führten aber dazu, die Einzelschritte wie die Räder eines Uhrwerks ineinandergreifen und eine Industrie ohne aufwendige Maschinerie entstehen zu lassen. Die menschlichen »Rädchen« waren dabei die Vorläufer der stählernen Räder der rie sigen Maschinen, die noch in der Zukunft lagen; mit den Sklavenkörpern wurde die »Maschine« als Inbild der Industrie vorgeformt. Denn die Maschine ist nicht durch ihr überragendes Material definiert und nicht durch hohen Energiebedarf, nicht durch Größe und Ausstoß. Sondern durch das abgestimmte, keine zeitliche Abweichung zulassende Ineinandergreifen ihrer Teile. Die können aus hartem Stahl, aus zähem Holz oder weichem Fleisch und zerbrechlichen Knochen bestehen – die leicht »vernutzt« werden, wie Marx es nannte.
    Es war der Zucker selbst, der die industrialisierte Produktion erzwang – wenn (dieses »wenn« ist allerdings entscheidend) – wenn man sich darauf versteifte, nicht ein paar Zentner des weißen Goldes herzustellen, sondern Hunderte und Tausende Tonnen; wenn man die große Masse wollte. Massenhafte Produktion, massenhaften Absatz, massenhaften Gewinn. Der Preis dafür ist nicht nur die kollaterale Produktion von Massenelend und Massentod durch Arbeit, sondern auch die Verwandlung des »weißen Goldes« des 17. Jahrhunderts in den »weißen Dreck« des 20.
    Zucker ist schädlich. Zucker ist böse. Weiße Kristalle wie Heroin oder Kokain. (Die Erzeugnisse der Pharmaindustrie sind auch alle weiß, kann das Zufall sein …?) Aber nun, da wir die Dinge anders sehen, da wir die Werte umwerten, da wir im Zucker das Böse seiner Geschichte schmecken – wo ist denn das ursprünglich Gute, das »Urgute« des Zuckers hingekommen? Das kann doch nicht sein, dass eine Substanz gleichzeitig gut und böse ist? Nein, das kann nicht sein. Man muss das fein säuberlich auseinanderhalten. Es hilft nichts: Das ursprünglich Gute ist von der Masse abgetrennt worden – eben durch den vermaledeiten Prozess der »Reinigung«, der Raffination. Was übrig bleibt, ist leer und weiß und profitbringend und schädlich. Zucker eben. Was weggeschmissen wurde oder an Vieh verfüttert, ist gehaltvoll, braunschwarz und gesund. Die Melasse.
    In der Melasse befindet sich nun alles Gute, der weiße Zucker symbolisiert das Böse . Dabei muss die Melasse nicht einmal aus den Tropen kommen. Vor einigen Jahren entdeckte ich in einem Supermarkt der Kanareninsel Teneriffa ein Glas mit dunklem, fast schwarzem Inhalt. Die Rückseite des Etiketts informierte in kleingedrucktem Spanisch, wie gut und wertvoll diese Masse sei, stamme sie doch von »Zuckerrüben aus Deutschland«; die ganzen Vitamine, Spurenelemente etc. pp. seien darin eben noch enthalten … Zur Unterstreichung der »exotischen« Herkunft zeigte die Vorderseite des Etiketts ein buntes Bildchen. Mitteleuropäische Hügellandschaft mit dunklem Tann, aus dem tatsächlich ein Reh hervorlugte; der Schwarzwald als
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