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Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten

Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten

Titel: Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Autoren: Christian Mähr
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jede Form der Geburtenkontrolle verboten war, dauerte dieses peinliche Herumeiern dreißig Jahre. Weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf.
    Wie jedes Medikament hatte die Pille auch Nebenwirkungen, besonders die hochdosierten Varianten der ersten Jahre: Übelkeit, Spannungsgefühle, Migräne. Durch Entwicklung neuer Substanzen und durch niedrigere Dosierung konnten sie zurückgedrängt werden; in sehr seltenen Fällen kommt es zu Thrombosen (Gefäßverschlüssen), Bluthochdruck und Schlaganfällen. Gefördert werden diese Risiken durch Zuckerkrankheit und Rauchen. Außerdem erhöht die Pille das Auftreten bestimmter Krebsarten, senkt aber die Häufigkeit anderer; die Weltgesundheitsorganisation kam 2005 zum Schluss, dass der Nutzen für die Volksgesundheit wahrscheinlich überwiege.
    Fassen wir also zusammen: Der Erste, der eine zeitweise »Sterilisierung« der Frau unternehmen wollte, kam über Kaninchen nicht hinaus, weil er vorher von der konzentrierten Feindschaft der ganzen Gesellschaft in den Freitod getrieben wurde; das Konzept einer »Pille« stammt von zwei über siebzigjährigen Frauen; die Voraussetzung bezüglich Rohmaterial schuf ein – milde formuliert – exzentrischer Chemiker; die weitere chemische Entwicklung forcierte ein ebenfalls untypischer Chemiker, der heute als Autor von Theaterstücken und Romanen bekannt ist (Carl Djerassi); die Pharmakologie besorgte dann ein Pharmakologe (der in diesem Tableau noch normalste Vertreter seiner Zunft); die klinische Erprobung wiederum ein erzkatholischer Gynäkologe, der seine Karriere als Spezialist zur Behandlung von Unfruchtbarkeit(!) begonnen hatte – und alle Herren dieses Vereins haben zeit ihres Lebens behauptet und behaupten es bis heute, die Pille sei nicht ihre Idee und nicht Ziel ihres Strebens gewesen.
    Bei einer so verworrenen Entwicklungsgeschichte verwundert es doch einigermaßen, welche gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Substanz zugeschrieben wurden und werden. Etwa die »sexuelle Revolution« der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, heißt es, sei ohne die Pille gar nicht möglich gewesen. Dazu gibt es viele Meinungen; die Pille profitiert hier von den Verklärungen, in denen jene Epoche von »love and peace« erscheint – vor allem bei den schon ergrauten Zeitgenossen, die ihre Jugend mit all den Hervorbringungen der Popkultur im bedeutendsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte verbracht haben – wenn man ihnen zuhört. Ich persönlich höre ihnen nicht zu, weil ich weiß, dass sie maßlos übertreiben.
    Die Pille, heißt es weiter, habe die katholische Kirche gespalten. Ein kurzer Blick in die Geschichte dieser zweitausend Jahre alten Institution beweist, dass die modernen Querelen um die Pille ein laues Lüftchen sind im Vergleich zu den Stürmen, die hinter ihr liegen. Es gab Zeiten mit zwei, sogar mit drei Päpsten, die sich gegenseitig exkommunizierten, es gab furchtbare Religionskriege – dagegen hat die Debatte um die Enzyklika Humanae vitae , obwohl erst vor vierzig Jahren losgebrochen, heute schon etwas fast anheimelnd Nostalgisches.
    Als Mittel zur Bevölkerungskontrolle wurde die Pille wahrscheinlich überschätzt, ungefähr vierhundert Millionen Menschen soll es aufgrund der Pille heute auf der Welt weniger geben; der Rückgang der hohen Zuwachsraten hängt mit sozialen Wandlungen und ganz generell und am wichtigsten überhaupt: mit der Emanzipation der Frau zusammen. Setzt sich diese durch und fort, kommen erst die technischen Mittel der Geburtenkontrolle ins Spiel, darunter die Pille an vorderer Stelle. Man sollte hier aber nicht Ursache und Wirkung verwechseln.
    Auch bei nüchterner Betrachtung gilt aber: Die Pille hat das Leben von vielen Millionen Menschen nachhaltig verändert, sie erlaubt die Regelung menschlicher Fortpflanzung, ohne Hunger, Elend und Gewalt (Abtreibung), wie es bisher in der Menschheitsgeschichte üblich war. Angesichts dieser einfachen und unwiderlegbaren Tatsache erstaunt die geringe Wertschätzung, die den Erschafferinnen und Erschaffern der Pille zuteilgeworden ist. Ihre Namen kennt kaum jemand, am bekanntesten ist noch Carl Djerassi, weil er auch Bücher schreibt, die anderen sind dem Orkus des Vergessens anheimgefallen – oder sollte man besser sagen: dem Orkus der Verdrängung?
    Noch eins: Bis heute sind über dreihundertfünfzig Nobelpreise für Chemie und Medizin vergeben worden. Keiner an einen Menschen, der mit der Entwicklung der Pille in Zusammenhang stand.
    Eine
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