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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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Wind, diese merkwürdige Anreise, all das tut’s auch. Das ewige Blau wird langsam zum Grau. Ist doch ein Grund, wahrscheinlich, warum es im klassischen Griechisch kein Wort für blau gibt. Man sah vor lauter Himmel das Blau nicht.
    Ihr prüfender Blick, ein Zögern: Selma hat mir erzählt, dass dein alter Saab gepfändet wurde.
    Ich musste ihn verkaufen. Wie alles andere auch. Ich bin ein Ballonfahrer, der Ballast abwerfen musste, so gewinnt man wieder Höhe und sieht mehr von Land und Leuten. Ewald hatte mir angeboten, den Wagen aus der Konkursmasse herauszukaufen und auf seinen Namen zuzulassen.
    Das ist typisch Ewald.
    Der Saab war für mich, was der hölzerne Jollenkreuzer für Ewald ist. Der Wagen musste ständig repariert werden. Das bringt das Alter so mit sich. Ich hatte mich eingearbeitet. Habe damit als Student auch ganz gut dazuverdient. Ich habe nie wieder mit einer derartigen Zufriedenheit meine getane Arbeit betrachtet wie bei den Autos, die nicht mehr dröhnend, sondern leise vom Garagenhof fuhren. Die Zufriedenheit, etwas so gemacht zu haben, dass man sagen konnte, es ist gut. Überall wird gewerkelt. Die Natur ist immer mit der Erneuerung und Verbesserung beschäftigt. Und da war der Blaumann, den ich mir überzog, ein liturgisches Grundgewand.

    Sie lachte, kam einen Schritt auf ihn zu und gab ihm wie zur Belohnung einen Kuss auf die Wange. Und wieder war dieser Duft einer fernen Blüte da, der an ihm haften blieb.
    Hast du noch den Armreif, den Ewald von Selma gekauft hat?
    Ja. Irgendwo. Ich habe ihn danach nicht mehr getragen. Was macht Sabrina?
    Börsengeschäfte.
    Was genau?
    Ich weiß nicht, sie hat zweimal im letzten Jahr gewechselt. Letztes Mal hab ich sie nicht gefragt. Ich müsste es wissen. Ich bin kein guter Vater, sagte er.
    Das bist du wahrscheinlich nicht, aber schon so, wie du das sagst, machst du es dir leicht. Das hört sich so gut an. Du gefällst dir darin, mein Lieber. Ich bin keine gute Mutter, und ich gefalle mir gar nicht darin. Ich gebe mir jede Mühe, jede nur erdenkliche Mühe habe ich mir gegeben, aber es ist nicht gelungen. Das Mädchen sonderbarerweise hat alles gut überstanden, aber der Junge, sein Alter, als ich mich trennte, er lutscht heute mit sechzehn noch Daumen, ich habe den Psychiater gefragt, der sagte, lassen Sie ihn Daumen lutschen, das korrigiert sich, wenn er es öffentlich macht, von selbst. Zeugt doch von Selbstwertgefühl. Vor allem besser, jetzt den Daumen zu lutschen als später nur den Daumen der Frauen. Ich habe den Psychiater gewechselt, er machte mich an, da ja nicht ich, sondern der Junge sein Patient war, stell dir das vor, fragt mich, ob wir uns außerhalb der Problemzone einmal treffen könnten, ich habe es Herby gesagt, der wollte ihn anzeigen, aber wie, nein, der Junge hat am meisten gelitten.
    Dass Ole Daumen lutscht, das ist nicht komisch, schrie sie plötzlich, sieh mich an, du sollst nicht lachen. Hörst du.
    Ich lache nicht.
    Doch, du grinst innerlich.
    Nein. Ich grinse nicht. Ich bin traurig.
    Du?
    Ja.
    Nach einiger Zeit fuhr sie fort: Der Junge hatte die Ausbrüche von Ewald gehört. Seine Beschimpfungen. Das war später. Als ich es Ewald gesagt hatte, endlich, als ich wieder das zusammenfügen konnte, was ich denke und was ich sage, was ich fühle und was ich sage, als ich versuchte, das zusammenzuführen, da saß er da, ich hielt seine Hände, ich weinte, er verstand zuerst gar nicht, und dann brach es aus ihm heraus: Er nannte deinen Namen. Vier, fünf Mal. Unmöglich. Er schüttelte den Kopf. Und dann. So, schrie er. Und dann – zwei Worte.
    Was?
    Nein. Ja, er schrie.
    Welche Worte?
    Man muss nicht alles wissen. Er schrie, stand auf und rannte hinaus. Er lief raus, in seinen Slippern, in Hemd und Hose, er lief durch die Straßen. Es regnet, habe ich hinter ihm hergerufen. Und als er nicht zurückkam, habe ich ihn gesucht, bin mit dem Wagen durch die Straßen gefahren, dort ein Mann, nein, der führte seinen Hund aus. Und dann sah ich ihn, durchnässt, ich fuhr neben ihm her, lass uns reden. Er hörte nicht, ein Paar unter einem Regenschirm kam uns entgegen, blieb stehen, er ging, lass uns reden, da kam er zum Wagen und sagte, lass mich in Ruhe. Was willst du, komm, bitte, steig ein. Nein. Er blieb ruhig. Ich will allein sein. Ich muss nachdenken.
    Später waren wir bei einem von Freunden empfohlenen Eheberater. Es hieß, er könne auch die verworrensten, von Hass gesteuerten Zerwürfnisse harmonisieren, zumindest so, dass die
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