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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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das Bettenmachen, Fegen, die Zeiten des Essens, des Abwaschens, und gestand sich keine Lässlichkeit zu.
    Jetzt, vor dem Teller mit dem Brot und dem in der Zwischenzeit kalt gewordenen Tee sitzend und an den Anruf denkend, an ihre Stimme und die Ankündigung zu kommen, wich die Überraschung und erste Freude einem Zögern. Einen Moment lang versuchte er sich einzureden, dass die umständliche Anreise sie abhalten würde, aber dann musste er sich sagen, dass dreimaliges Umsteigen bei ihrer Entschiedenheit kein Grund war, nicht zu kommen, wenn sie sich den Besuch einmal in den Kopf gesetzt hatte.
    Er kannte sie, glaubte er, immer noch. Dieser Satz: Es wird Zeit, dass wir uns sehen.

    Einen Augenblick überlegte er, ob er sie anrufen sollte, um ihr abzusagen. Ihre Nummer war aber, als er auf seinem Handy nachsah, unterdrückt. Er hätte eine Ausrede finden können, die keine Lüge war. Er hätte sagen können, schlechtes Wetter sei für die nächsten Tage angesagt, sogar Sturm.
    Tatsächlich hatte der Wind am späten Nachmittag zugenommen.

    Ihm kamen Zweifel. Der Gedanke, mit ihr die Hütte, die aus einem Wohnraum und drei kleinen Kammern bestand, eine Nacht teilen zu müssen, beunruhigte ihn. Eine ungewohnte körperliche Nähe mit all den überraschenden Bewegungen, den Gerüchen, dem Reden und Reden-Müssen.

    In den letzten Jahren hatte er allein gelebt, die letzten Monate dann in dieser Hütte. Und es war nicht ausgeblieben, dass sich Eigenheiten ausgebildet hatten, die er nicht mit anderen teilen mochte. Das nächtliche Aufstehen, mindestens einmal, um im Freien zu pinkeln, den Blick nach oben, wenn es denn wolkenlos war, zu diesem so nah scheinenden Sternenhimmel.

    Er trank von dem Holundersaft, den ihm die Frau des Bauern von ihrem Mann mit der Erklärung mitbringen ließ: Wird das Wetter nass und kalt und kommt der Schnupfen allzu bald, sorgt nur Holunder für den Halt.
    War das Wiedereinschlafen fern, redete er in der Dunkelheit oft laut, nicht nur mit sich, sondern mit seinen Geistern, wie er sie für sich nannte, Freunde wie Feinde, tote oder noch lebende. Sie suchten ihn hier eigentümlicherweise weit häufiger auf als in der Stadt, selbst solche, die er seit Jahren nicht mehr gesehen und an die er kaum noch gedacht hatte. Hier kamen sie zu ihm, vielleicht lag es an diesem Wind, der fast immer ging, an dem fernen Rauschen der Wellen, dem Geschrei – ja, es war ein Schreien – der Vögel und dem Fehlen menschlicher Stimmen. Die Geister rückten ihm in ihrer Leiblichkeit meist nachts, hin und wieder aber auch tagsüber so nahe, dass er sie deutlich vor Augen hatte. Es war nicht nur ein kurzes Gedenken, er hielt Zwiesprache mit ihnen.
    Eine Erfahrung, wie sie ähnlich wohl Polarforscher machten, die, hatten sie einen Kameraden verloren, ihn plötzlich, obwohl er doch erfroren und schon im Eis begraben lag, wieder im Zelt sitzen sahen.

    Mit dem Freund, dem Engländer, sprach er oft, nicht nur in Gedanken, sondern laut, und erzählte ihm von seinen Beobachtungen, von dem Falken, der vor vier Tagen vom Sturm auf die Insel geweht worden war, oder von den Sumpfohreulen, die den Jungvögeln im Flug Futterbrocken zuwarfen. Vor allem von den Steinwälzern, von denen ein Paar im Frühjahr auf der Insel genistet hatte.
    Wie genau diese sprechenden Namen die Tiere erfassen, hatte er gedacht, als er die Vögel vor Jahren gemeinsam mit dem Freund studierte. Mit dem englischen Freund, einem Ethnologen, dessen Hobby das bird-watching war, hatte er zweimal Urlaub an der Nordsee, auf Amrum, gemacht. Der Freund war für den Vogelflug sein Lehrer gewesen. Strandgespräche nannten sie das, sich vom Märzwind über die Küste von Amrum treiben zu lassen oder aber gegen ihn anzugehen, miteinander redend, zuweilen wurden ihnen die Worte von den Böen vom Mund gerissen, über Shakespeare, über Muschelgeld, Tempelprostitution, Colons, über die Ibo und den Tausch von Kaurimuscheln und über die Karawanenwege des Damasts in Afrika.
    Wie fern ihm das jetzt erschien, die Erregung über die Mächtigen, wie die mit der Welt umgingen, vor allem der Freund wütete mit wunderbarer Ausdauer und Energie und einer erstaunlichen Vielzahl von Verachtungswörtern meist aus dem Analbereich gegen die Neoliberalen, mit denen er an der Universität und in der Verwaltung zu tun hatte.
    Wenn der englische Freund entschwand, nachdem er ihn wieder einmal in der Hütte besucht hatte, blieb jedes Mal die Trauer über diesen Verlust: Nicht mehr anrufen
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