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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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Paare später miteinander umgehen konnten, ohne einander an die Gurgel zu gehen. Bei uns war es ja nicht das An-die-Gurgel-Gehen, sondern das Erlöschen. Ja, bei mir war es erloschen, etwas war tot, etwas fehlte. Aber was? Bei Ewald war es so ganz anders, Ewald litt, und er litt sehr. Nur eines war nicht möglich, das wusste ich, zurückzukehren.
    Der Mittler gab sich alle Mühe, aber die Mühe war vergebens. Die Ratschläge waren denkbar für Partner, die zueinander wollten, aber nicht konnten, weil ihnen bestimmte Eigenarten des anderen im Weg waren. Von denen der eine mehr Nähe und der andere mehr Distanz brauchte. Der Mittler kann dann helfen, diesen Zwischenraum allmählich zu bestimmen, so lässt es sich leben.
    Aber ich war aus der Umlaufbahn hinausgeschleudert worden. Ich war plötzlich ein freies Radikal, so muss ich sagen. Ich musste auch Ewald schützen, auch mich und die Kinder. Und so bin ich gegangen, und wie es heute aussieht, war es richtig.

    Eschenbach war aufgefallen, wie schnell sie trank. Er machte vorsichtshalber auch die Flasche Rotwein auf, die er aus Berlin mitgebracht und für die Nacht vor seiner Abreise von der Insel aufgehoben hatte.

    Die Welt war aus den Fugen, hat Ewald gesagt, nach unserer Trennung.
    War sie das nicht immer?
    Nein. Ich bin gekommen, meinen Frieden mit dir zu machen, so wie ihn Ewald mit dir gemacht hat.
    Ich dachte, wir hatten nie Krieg.
    Siehst du, sagte sie, du hast es gar nicht gemerkt. Ich hatte Krieg mit dir, ich wollte nichts mehr von dir wissen. Ich wollte, hätte ich gekonnt, alles ungeschehen machen wollen.
    Wirklich?
    Ja, wirklich.

    Der Wind rüttelte wieder an der Hütte. Und er dachte, sie ist schön, noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte, schöner als auf dem Foto, das er in seiner Wohnung aufgestellt hatte und hin und wieder betrachtete. Die feinen Falten um die Augen, man sah, sie lachte leicht und oft. Und um den Mund zwei feine Linien, dazu eine kleine Vertiefung, dort, wo die Lippen aufeinandertrafen. Etwas Wissendes, etwas, das Lust empfunden hatte und Lust geben konnte, zeichnete sich dort ab. Sie sah ihn an, nicht herausfordernd, sondern seinen Blick erwidernd, ließ ihn zu sich hinein und reichte ihm die Hand über den Tisch.
    Das letzte Mal, als wir uns trafen, war es nicht gut, sagte sie, so konnte es nicht, so durfte es nicht bleiben.
    Er versuchte nicht, ihre Hand festzuhalten, sagte nur: Ja, so ist es besser.
    Und er dachte, es ist gut, so wie wir miteinander umgehen, kein Aufeinander-Zu- und kein Von-einanderweg-Stürzen. Früher: Ihr Abwehren, sein Drängen, das plötzliche Sich-Öffnen.
    Das Licht blakte, und er drehte die Kerze ein wenig, damit sie gleichmäßig abbrannte.

    Für sie hatte er sich das Wort Liebe bewahrt. Und bei ihr ging es ihm leicht über die Lippen, auch jetzt für sich und stumm gesprochen. Und jedes Mal, wenn sie ihm in den vorangegangenen Monaten in der Hütte begegnet war. Das Bild war nicht verblasst.

    Aber ihre Sprache hatte einen anderen Klang. Da war dieser fremde amerikanische Tonfall. Sie spricht in der fremden Sprache, die für sie nicht mehr fremd ist, über Liebe, über ihre Wünsche. Warte, ich komme gleich. Warte, noch ein wenig. Geschäftliches hält die Distanz zur fremden Sprache, bewahrt die eigene, aber die Wörter, mit denen unsere Wünsche benannt werden, sie schmiegen sich der Aussprache des Geliebten an, bringen diesen etwas breiten Ton in den Mund. Ja, er glaubte den Tonfall des Mannes, den er nicht kannte, in ihrer Betonung zu hören.
    Als er für die Norne zu arbeiten begann, hatte er sich mit Hypnose beschäftigt, denn das war es, wie ihm schien und wie er bei Roland Barthes bestätigt fand, Liebe auf den ersten Blick als Hypnose. Unter posthypnotischer Suggestion treten messbare Veränderungen auf, las er. In neuropsychologischen Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren konnte gezeigt werden, dass dabei die Aktivität bestimmter Gehirnareale selektiv reduziert ist.
    Es war, als ich dich sah, kein Nachdenken, nur der dringliche Wunsch, dir nahezukommen.
    Sie lachte und umarmte ihn, aber einen Moment länger als bei einer bloß spontanen Geste, dass er kurz und doch lang genug ihre Wärme und Weiche spüren konnte.

    Sie setzte sich wieder an den Tisch, zeigte auf die Manuskriptseiten und fragte, darf ich.
    Immerzu.
    Sie las ihm, der am Küchentisch hantierte, laut vor: Siebenunddreißig, Manager in der Elektronikbranche, verheiratet, zwei Kinder – wer ist denn
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