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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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lenkte mich ab.

    Nach einer langen Pause hörte er ihre Stimme: Auch ich lag unter Trümmern.

    Es prasselte gegen die Hüttenwand, als würden Kieselsteine dagegengeworfen. Windstöße. Ein leichtes Schwanken der Wände. Das an- und abschwellende Prasseln ging langsam in ein Rauschen über. Am Fenster lief das Wasser in breiten, hin- und herschwappenden Strömen herunter.
    Die Welt geht unter, sagte sie.
    Hoffentlich.
    Nein, ich hoffe nicht.

    Auch diese Angewohnheit hatte sie beibehalten, sie sammelte die Brotkrümel auf und knetete – die langsamen Bewegungen der rotlackierten Nägel – kleine Kügelchen daraus, legte sie nebeneinander und drückte sie, während sie erzählte, platt. Flucht, sagte sie. Es war Flucht. Vor Ewald. Vor den Trümmern der Familie. Flucht vor dir, vor uns. Alles, vor allem ich mir selbst, war mir unerträglich geworden.
    Ich bin im Dezember nach New York geflogen und zu meinem Bruder gefahren. Am nächsten Tag kam ich aus dem Haus und die Stadt war über Nacht verwandelt, weiß, still, kein Verkehr, keine Autos, keine Taxis, keine Busse, keine Passanten, alles tief verschneit, darüber ein eisiges Blau.
    Ein Blizzard hatte die Stadt getroffen. Sie lag in einer wattigen Stille da. Ich stapfte durch den Schnee, sah die Sonne oben als Reflex in dem Metall, in dem Glas der Hochhäuser und, sagte sie, ich wusste, dass ich bleiben würde. Später, als ich Herbert kennenlernte, bin ich mit der Galerie nach L.A. gezogen. Ist auch besser fürs Geschäft.
    Er räumte die Teller zusammen und trug sie zur Spüle. Einen Schnaps. Quitten? Den bringt der Bauer mit. Selbstgebrannt. Oder Vogelbeere?
    Sie hatte sich den Pullover ausgezogen und saß da in einem sandfarben schimmernden Hemdchen mit langen Ärmeln, durch das der dunkle BH schimmerte.

    Ich habe meine Eltern besucht, erzählte er. Sie haben eine Alten-Wohngemeinschaft gegründet. In München. Eine ganz erstaunliche Versammlung von Grauköpfen. Drei Paare wohnen in dem toskanabraunen Jugendstilhaus mit einem rechteckigen Turm, darauf ein grünes Kupferdach. Das Haus ist umgebaut worden, seniorengerecht, wie es hieß, und zwei der Bewohner sind an der Planung beteiligt gewesen. Alles haben sie bedacht, die Lage, die anderen Alten. Lange ausführliche Gespräche, ob man zusammenpasse. Das Wichtigste, sie wollten keine Rechten im Haus haben. Über alles andere konnte man reden, haben sie gesagt. Diskutieren, das bringt Leben in die Bude.
    Eschenbach war hingefahren, das dreistöckige Haus lag in der Nähe des Englischen Gartens. Die U-Bahn war nicht weit entfernt. Die Wohnung im Parterre, haben sie an eine Familie mit Kindern vermietet. Wer von den Alten will, kann, hin und wieder auf die Kinder aufpassen oder bei den Schularbeiten helfen. Eine Kommune der Alten. Also sehr zeitgemäß. Auch das schwule Paar, das unter den Eltern wohnte, ein Amtsrichter im Ruhestand mit einem Oberstleutnant der Luftwaffe, der als Jetpilot früh pensioniert wurde.
    Denkt man gar nicht, hatte Eschenbachs Mutter gesagt, Kampfjetpilot und schwul. Aber warum eigentlich nicht? Der Pilot kocht sternemäßig, sagte die Mutter.
    Zu Weihnachten trifft die Hausgemeinschaft sich zu einem gemeinsamen Essen. Der Kampfpilot brät einen Truthahn, einen Turkey. Und die Mutter schwärmte von der Kastanienfüllung und den leckeren Bataten. Der Oberstleutnant war mehrere Jahre Ausbilder in Phoenix, Arizona, gewesen, daher die Kenntnisse.
    Ich habe die Eltern, erzählte er, auf ihrem Balkon sitzen gesehen. Auch der Balkon war erweitert worden zu einer kleinen Terrasse. Oleanderbüsche und einen kleinen Feigenbaum haben sie dort stehen. Der Baum, der im Winter zugedeckt wird, trug bei guter Pflege im letzten Jahr immerhin 86 Feigen, gelbgrün und süß. Sie saßen da, sagte er, wie Philemon und Baucis.
    Auch Wünsche altern, sagte sie.
    Vielleicht werden sie wieder stark und, wie soll ich sagen, virulent, wenn das Vergessen einsetzt, die Kontrollen ein wenig oder ganz ausgeschaltet werden. Meine Mutter hat mir die Geschichte einer Freundin erzählt, die mit vierundachtzig Jahren aus der Wohnkommune der Alten aus- und in ein Pflegeheim einziehen musste, weil sie derartig vergesslich wurde, dass sie die Orientierung in der Wohnung verlor. Sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen, verwechselte die Personen, erkannte nur noch hin und wieder ihre Tochter. Im Pflegeheim freundet sie sich mit einem achtzigjährigen Mann an, ebenfalls, vorsichtig gesagt, hochvergesslich, der bei Tisch
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