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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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Nachbarinsel Nigehörn. Erlen, mit denen die Baumvegetation beginnt. Was mir hier fehlt, ist das Blätterrauschen, die Verbindung von Himmel und Erde.
    Sie standen einen Augenblick schweigend und sehr nahe nebeneinander. Ich bin wegen eines Arztbesuchs gekommen. Ein Professor in der Charité. Vor drei Wochen hat man festgestellt, dass ich krank bin. Es war, als müsse sie das Wort mühsam aus sich herauswürgen, Leukämie, eine aggressive Art und untypisch, da ich nicht an Gewicht verloren habe, eher im Gegenteil. Nur erschöpft, maßlos erschöpft. Ich muss Mittel nehmen, um nicht umzufallen, einfach einzuschlafen. Jetzt das Übliche, eine Chemotherapie, bald, sehr bald, dringend, hat man mir gesagt. Sofort. Ich habe überlegt, ob ich das drüben mache oder hier. Jetzt war ich bei dieser Koryphäe. Der hat, nach abermaliger Untersuchung, das, was man mir in L. A. gesagt hatte, bestätigt.
    Eschenbach musste an die junge Informatikerin denken, die eines Tages zu ihm gekommen war und sagte, sie müsse leider in die Klinik. Sie habe Leukämie. Und dann sah er sie nach zwei Monaten wieder, kahl, abgemagert, eine gipserne Haut. Erschreckend war ihr Mund, wie ein Schnitt im Gesicht, als habe sie sich vom Zusammenbeißen der Zähne die Lippen weggequetscht. Diese übergroßen Schmerzensaugen.
    Ich weiß, was auf mich wartet, sagte sie, als habe sie seine Gedanken erraten. Ich habe überlegt, ob ich es hier mache oder drüben, wiederholte sie wie in Gedanken. Aber es ist dann doch besser, das drüben zu machen. Die Kinder jetzt herzuholen, aus allem wieder herauszureißen. Und Jonas kennt Ewald kaum. Herbie ist ein guter Ersatzvater. Ein Mann, der keine Kinder zeugen kann, sich aber immer welche gewünscht hat –anders als du.
    Sie zündete sich eine zweite Zigarette an, und Eschenbach erbat sich auch eine. Er dachte, es sei ein hilfloses kleines Zeichen seiner Verbundenheit. So standen sie, rauchten und schwiegen.
    Wenn ich dir helfen kann, sagte er, wo nichts mehr zu sagen war, dann sag es.
    Ich weiß, das ist das tiefe Unglück, richtig helfen kann niemand, allenfalls die Ärzte. Aber Nähe zu haben ist gut. Das zu wissen. Auch wenn die Entfernungen groß sind. Ich muss jetzt schnell zurück. Es war ein Aufschub, den ich mir selbst gegeben habe, bevor die Qual beginnt. Und keine Gewissheit, ob sie zum Leben führt.
    Er wusste nicht, was er noch hätte sagen können, und so schwieg er. Sie rauchten die Zigaretten zu Ende, blieben noch einen Augenblick stehen. Eschenbach nahm sie in die Arme. Er fror, und so blieben sie stehen. Bis er vor Kälte anfing zu zittern.
    Komm, sagte sie sachlich, wir waschen ab.

    Während er mit heißem Wasser und Zitronenmelisse abwusch, trocknete sie die beiden Teller, den Topf, die Pfanne ab und fragte, ob er allein lebe.
    Das siehst du doch.
    Sie lachte. Bist du mit einer Frau zusammen?
    Er rührte einen Moment mit der Bürste in der Salatschüssel herum und sagte, nein, es ist die Leichtigkeit, die Abwesenheit von allem hier, die Straßen, die Häuser, das Fernsehen, das Reden und das Gerede, und dazu gehört auch das Fehlen der Leidenschaft, alles, was bindet, was über diesen Moment hinausgeht.
    Auch das Begehren?
    Wenn ich daran denke, ist es fern, aber manchmal, plötzlich, taucht es auf, kommt näher wie ein scheues Tier.
    Er räumte das Geschirr in den kleinen Wandschrank, wischte die Herdplatte ab.

    Was war an uns, was ist dir aufgefallen, fragte er später, als sie die zweite Flasche ausgetrunken hatten und die Kerze heruntergebrannt war. Sie saß da und sah ihn an. Die Haare schüttelte sie sich, eine Angewohnheit, die sie beibehalten hatte, ins Gesicht, als müsse sie hinter diesem Haarvorhang nachdenken.
    Alles. Ja. Und es war gut. Und du?
    Hände, Nase, Stirn, Wangen, Wangenknochen ein wenig hoch und breit, nach Norden weisend, die Beine, Kniekehlen, die Geborgenheit in dir, sagte er. Als Kind, im Winter zurück aus der eisigen Kälte, die man beim Spielen nicht bemerkt hat, im Haus, hat meine Mutter meine Füße unter ihre Achseln genommen.
    Wie war das mit dem Matrosen, der vom Wal verschluckt worden war?
    Er erwachte und konnte sich an nichts erinnern, da war nur das wohlige Gefühl feuchter, weicher Wärme.
    Ich bin müde, die Reise, der Zeitunterschied und dann sowieso.
    Das Bett ist gemacht.
    Ich muss noch mal raus.
    Nimm die Taschenlampe.

    Als sie wieder hereinkam, zog sie sich den Mantel aus. Er bemerkte, als er den Rechner ausschaltete, ihr Zögern, wie sie sich
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