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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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ihr aber immer den Stuhl neben sich freihält. Eine das Pflegepersonal in Erstaunen versetzende Gedächtnisleistung. Die Frau wird von der Tochter für zehn Tage zu sich nach Hause geholt, ihr 85. Geburtstag soll gefeiert werden. Die Mutter zeigt in diesen Tagen eine große Unruhe. Man meinte, sagte die Tochter, sie sucht etwas, ging ständig durch das Haus. Man bringt sie schließlich zurück ins Heim. Und da sitzt der alte Mann, und neben ihm ist der Stuhl frei. Sie setzt sich. Und als die Tochter nochmals nach ihr sieht, sitzen die beiden da und halten sich die Hände.

    Ich habe damals gehofft, dass du kommst, dass du irgendwann zu mir kommst. Die Hoffnung, sagte er, schwand, als ich erfuhr, dass du ein Kind bekommen hast.
    Und du hoffst es nicht mehr?
    Nein, sagte er. Es ist abgeschlossen. Die Erinnerung – eine Schatztruhe. Hin und wieder öffne ich sie und krame darin.
    Er lauschte in die Dunkelheit. Es hatte aufgehört zu regnen.
    Und das Kind? Jonas, in der Neuen Welt?
    Sie sah ihn streng, nein, sogar böse an, ein böser, abweisender Blick, der keine Fragen mehr zuließ.
    Aber es war ihm auch egal, ob er der Vater war oder nicht. Ewald hatte es übernommen. Und nie, in keinem Augenblick, hatten sie darüber gesprochen.
    Mit Selma, die sich so sehr ein Kind wünschte und deren Wunsch jetzt endlich in Erfüllung ging, hatte er darüber auch nicht reden können. Selma, das war ein großes, wunderbares Verstehen, es sei denn, man wollte keine Kinder oder stellte Polen infrage, allenfalls durfte man den Säufer Lech Walesa kritisieren oder die nationalistischen Zwergzwillinge.

    Und deine Frau? Es war das zweite Mal, dass sie nach seiner Frau fragte, so als glaube sie nicht, dass er ihr schon alles gesagt habe.
    Ist immer noch in Goa. Ich wollte mich scheiden lassen. War auch bei dem Anwalt, den mir ein Freund empfohlen hatte.
    Sie nickte und trank, den Arm auf den Tisch gestützt, den Wein in großen Schlucken. Sie trinkt, dachte er, wahrscheinlich eine Berufskrankheit der Galeristen.

    Der Freund hatte den Anwalt als einen Zyniker beschrieben, kalt und sachlich, was bei Scheidungen wichtig sei, da Romantiker oder Anwälte, die zur Philanthropie neigen, nur Unheil anrichten. Emotionen, die ja meist während der Trennungsgespräche auftauchen, werden bei ihm kalt. Jemand, der die Ehe als eine gesellschaftliche Fehlkonstruktion ansieht. Ehen müssen möglichst schnell geschieden werden. Eschenbach war bei dem Anwalt, dann aber wollte Bea im letzten Moment keine Scheidung. Warum scheiden lassen, es gibt keinen Grund. Wahrscheinlich hatte sie, die als Erbin in der Angst lebte, verarmt zu sterben, die Hoffnung, Eschenbach werde sie in Not unterstützen. Obwohl bei ihm nichts mehr zu holen war. Aber wer weiß, vielleicht wollte sie ihm damit auch sagen, wenn es hart auf hart geht, werde ich für dich sorgen.
    Bea war für Überraschungen gut.

    Sie fragte ihn, ob es ihn störe, wenn sie eine Zigarette rauche.
    Nein, du weißt, es stört mich nicht.
    Aber dann sagte sie, lass uns rausgehen, wie damals, als wir vor Selmas Laden standen.
    Sie zog sich ihren weichen Mantel an, der so aussah, als wollte er gestreichelt werden.

    Sie gingen hinaus. Ein paar windzerfaserte Wolken zogen am Horizont. Schon blickte die Nacht zu den Sternen.
    Sie zündete sich die Zigarette an, und wie sie den ersten Zug nahm, auch tief in sich hineinatmete, war deutlich, wie sehr sie auf diesen Moment gewartet hatte. Wie viele Frauen noch rauchen, dachte er, in Gesellschaft sind es meist Frauen, die sich auf den Balkonen oder vor den Restauranttüren versammeln. Sie stehen und reden, und der Eindruck ist wohl nicht ganz falsch, dass sie sich zurückziehen, wie früher die Männer in das Raucherzimmer, um unter sich das zu bereden, was für das andere Geschlecht nicht bestimmt ist.

    Der Beachcomber legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war jetzt wie vom Regen geputzt, die Sterne so nah wie über eine dunkle Straße vergossene Milch.
    Wie damals stand sie, den linken Arm gleichsam schützend über die Brust gelegt, die Hand in der Achselhöhle verborgen. Und beide sahen hinauf in diese kalte Weite.
    Sie fragte, was er hier auf der Insel am meisten vermisse. Er hätte sogleich antworten können, was er hier nicht vermisste. So aber stand er und überlegte und forschte in sich und sagte schließlich: Bäume. Ja. Bäume. Du hast ja gesehen, es gibt nur dieses Gebüsch, die Kamtschatkarosen und Kriechsträucher. Und vier, fünf Bäume auf der
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