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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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Leute, die in Betracht kamen, so geschwind nicht kommen konnten oder wollten, immerhin stand eine monatelange Trennung von den Partnern bevor, ob er Interesse habe.
    Er hatte sofort zugesagt.

    Er lauschte dem Knacken und Knistern der brennenden Holzkloben im Ofen und hatte eben wieder Teewasser aufgesetzt, als sie ein zweites Mal anrief. Sie habe sich einen Mietwagen bestellt und könne schon morgen kommen. Sie wollte die Gezeiten wissen, wann sie bei Ebbe den Pferdewagen nehmen könne. Er hatte dann doch nichts vom schlechten Wetter gesagt, sondern nur: Nimm dir etwas Warmes mit. Er hätte aber sagen müssen, nimm dir einen Regenmantel mit.
    Ihren Besuch habe er bei der Naturschutzbehörde angemeldet. Sie dürfe eine Nacht bleiben.
    Sie hatte wieder, und das lachend, gefragt, warum diese Weltflucht, warum gerade so ein Inselchen?
    Du wirst es sehen. Und mach dir keine Hoffnung auf traumhafte Buchten, Steilküsten, nichts, eine kleine, flache, im Wattenmeer gelegene Sandinsel.

    Nach diesem zweiten Anruf ging er zum Strand hinunter. Die Brandung war hoch. Die Flut drückte gegen das ablaufende Wasser, und der Wind war günstig.
    Er ging nackt und musste auf niemanden Rücksicht nehmen, ging zwischen aufgescheuchten Silbermöwen, ein wildes, alptraumhaftes Kreischen, watete durch die auslaufenden Wellen und sprang ins Wasser, in dieses kalte, Ende September schon sehr kalte, salzige Wasser, das ihn trug, ihn, der auf dem Rücken schwamm, eine kurze Zeit schweben ließ. Danach kraulte er hinaus, und wie jedes Mal dachte er, wenn er jetzt einen Krampf oder Schwächeanfall bekäme, wäre niemand da, der es bemerken würde. Ein Gedanke, der keinen Schrecken, eher etwas Beruhigendes hatte.
    Er kehrte um, schwamm an den Strand und legte sich in den Sand, ließ sich vom Wind trocknen, ein plötzliches Frösteln, wenn die Sonne von einer der kleinen weiß ausfasernden Wolken verdeckt wurde. Er hatte nie Yoga gemacht, dachte, genauso müsse es sein, wenn man langsam in sich hineinsank und das Hin und Her der Gedanken und Bilder, das Wollen und Wünschen in einem Helldunkel unter den Lidern verschwand.
    Was ihn von all denen, die er in der Stadt zurückgelassen hatte, unterschied, war das Planlose. Er musste nicht planen, nicht über den Tag hinaus. Nicht wie Ewald, der Architekt, der so sehr Planer war, ein Planer von Häusern und Leben, und nicht wie Anna, die ihn angerufen hatte. Er hatte gehört, dass sie eine Galerie in Los Angeles betrieb.
    Auch er war einmal Planer gewesen, der das Überflüssige verringern sollte. Knapp, schlank, schnell. Diese Jäger der Gelassenheit, wie Selma sie nannte. Selma, die an ihrem Werktisch saß und einen silbernen Armreif schmiedete. Er war jetzt Sammler von ein paar Daten über Vogelflug und -arten, über Wetter und Gezeiten, Wasser und Watt, ein Beschreiber war er und nichts weiter.
    Du romantisierst, hatte Ewald einmal gesagt.
    Was für ein Wort, hatte er gedacht und gesagt, wenn du es so siehst, meinetwegen.

    Ein Grund für seine schnelle Zusage war gewesen, dass ein seiner Wohnung gegenüberliegendes Haus renoviert wurde. Die Mieter, von denen er einige gegrüßt hatte, meist ältere Leute, waren mit Geldzuwendungen dazu bewegt worden, ihre Wohnungen zu verlassen. Renoviert war nicht der richtige Ausdruck, das Haus wurde regelrecht ausgeweidet, Zwischenwände waren eingerissen, die Decken in den Wohnungen abgestützt und mit Plastikbahnen verklebt worden, um den Stuck, der wohl später abgewaschen und gestrichen werden sollte, zu schützen. Morgens wurde er von dem kleinen, vor dem Haus stehenden Materialaufzug mit einem langgezogenen Quietschen geweckt, dann ein kurzes Dröhnen der Pressluftbohrer, das Kreischen einer Kreissäge. Stille. Man hatte gezeigt, dass man am Arbeitsplatz war. Eine Zeitlang hatte er sich überlegt, ob er nicht aufs Land fahren und sich in einer billigen Pension einmieten sollte. Aber beim Überschlagen seiner noch zu erwartenden Honorare musste er sich eingestehen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als diesen Lärm, der den sonst so ruhigen wie trostlosen Hinterhof derart aufdringlich ins Gehör brachte, weiter zu ertragen. Die Vorstellung, am Meer zu leben, lockte ihn und vor allem das – eine längere Zeit allein zu sein.

    Vor Jahrzehnten war er schon einmal auf dieser Insel gewesen. Er und ein Schulkamerad waren – kurz vor dem Abitur – auf Fahrrädern von Hamburg nach Cuxhaven und dann mit dem Pferdewagen nach Neuwerk gefahren. Dort hatten sie
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