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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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Stuhlreihen und auf ihn zugekommen. Das blondbraune, nein, messingfarbene Haar, das, wie noch nie zuvor gesehen, einen Stich ins Grünliche hatte, trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    Sie setzte sich neben ihn, einen Stuhl frei lassend. Während des Vortrags ( Was heißt Stadtplanung heute? ) hatte er seine Hand auf den freien Stuhl gelegt, und als er einmal kurz hinüberblickte, sah er ihre Hand, eine Hand, der man das Zugreifen ansah, dicht neben seiner liegen. Die Nägel waren nicht lackiert. Seine Vermutung, dass sie Kinder habe, sollte sich später bestätigen.
    Ihre und seine Hand lagen nebeneinander, zufällig und ohne Absicht, wenn man denn an Planung und Willen denkt, und doch voller Bedeutung, denn nach einem kurzen Blick und einem einvernehmlichen Lächeln zogen beide zur gleichen Zeit die Hände weg.
    Der glückhafte Augenblick.

    Er hatte später einen Physiologen gefragt, was es mit dem sogenannten Glanz der Augen auf sich habe. Der Mann sagte, tatsächlich stimulierten Endorphine die Glanzkörper im Auge. Sie erzeugten dieses Strahlen. Ein Wort für eine Erscheinung, die erst nach Jahrhunderten ihre wissenschaftliche Erklärung gefunden hatte. So wie die Redensart, man habe dieselbe Wellenlänge, längst vor der physikalischen Erkenntnis, dass jeder Körper eine bestimmte Frequenz hat, schon in Gebrauch war: Der liegt nicht auf meiner Wellenlänge.
    Das führt, hatte der Physiologe gesagt, zu Interferenzen, zu negativen, sich verringernden, oder zu positiven, sich aufbauenden Überlagerungen, also zum harmonischen Gleichklang.
    Eschenbach hatte daraufhin zögernd gesagt, der Blick, der gerichtete, erfassende Blick, sei anders als das Sehen.
    Was?
    Man sieht jemandem seine Angst an. Aber niemand blickt ihm seine Angst an. Der Blick schließt das in den Blick Gefasste mit ein, das ist der Anblick. Und der blickt zurück. Ist das nicht die eigene Wahrheit des Gefühls?
    Der Physiologe hatte daraufhin nur irritiert vielleicht gesagt.

    Nach dem Vortrag, als sich alle erhoben und hinausdrängten, sie in der Reihe ein wenig warten mussten, hatte Eschenbach sich ein Herz gefasst, so nannte er es vor sich selbst, und sie angesprochen, gefragt, ob sie Architektin sei. Nein. Was wiederum sie nun ihn fragte. Nein. Zweimal nein, das verbindet für mindestens ein Jahr, hatte er gesagt. Das war nicht originell, aber sie lachte, und es ließ die nächste Frage zu, ob es vielleicht noch mehr Doppelungen gäbe, was sie beruflich mache.
    Lehrerin, Kunst und Latein.
    Oh.
    Das sagen alle.
    Entschuldigung, wie kann ich dieses Oh wieder gut machen?
    Was machen Sie denn?, fragte sie in einem provozierenden Ton.
    Dinge vereinfachen, Ordnung in Unordnung bringen, was wiederum neue Unordnung bringt.
    Jetzt könnte ich Oh sagen, und sie lachte, aber was machen Sie denn nun genau?
    Ich leite, sagte er – untertreibend, denn sie gehörte ihm –, eine Firma für Software.
    Und worum geht es?
    Wir entwickeln Programme, die alles schneller und wirksamer machen. Nein, machen sollen. Aber das sei nicht so spannend wie ihr Latein- und insbesondere ihr Kunstunterricht. Eine nicht so häufige Kombination. Kunst sei doch sicherlich das Fach, das allen Schülern Lust bereite.
    In dem Moment war ein Mann zu ihnen getreten, schlank, groß, hatte Eschenbach freundlich zugenickt und zu ihr gesagt, die warten, und dabei mit dem Kopf in eine Richtung gedeutet, wo eine Gruppe Frauen und Männer stand.
    Im Weggehen hatte sie sich nochmals umgedreht und ihm gewunken. Ihm war, als würde sie von ihm weggezogen.

    Er war fortan zu den Vorträgen über Architektur und Stadtplanung gegangen, in der Hoffnung, sie zu treffen, und jedes Mal wieder mit dem peinlichen Gefühl, sich wie ein Schuljunge zu benehmen. Er traf sie schließlich, aber so anders als erwartet.
    Selma, die Silberschmiedin, mit der er seit zwei Jahren zusammen war – denn zusammenleben konnte man, da sie getrennt wohnten, nicht sagen –, hatte eine Einladung von einem Galeristen bekommen. Für diesen Galeristen hatte Selma einen Armreif angefertigt.
    In der Galerie wurden die Bilder eines jungen, angeblich aufstrebenden Künstlers gezeigt. In dem großen Raum waren Tische zu einer einfachen, mit Papiertischtüchern eingedeckten Tafel zusammengestellt worden. Dieser Augenblick, als er mit Selma den Raum betrat und zwischen all den Herumstehenden sie erkannte, war ein Schreck, keineswegs Freude oder Jubel, ein Schreck durchfuhr ihn. Die vollen, in dem kalten Licht erneut
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