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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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zu können, nachts – der Freund litt, ohne je darüber zu klagen, unter Schlaflosigkeit –, um über etwas zu reden, etwas Belangloses, das dann stets im Gespräch zu etwas Belangvollem wurde. Eschenbach erzählte von seiner Endlosarbeit über Jonas und den Wal, für die der Freund viele abgelegene Lektürehinweise gegeben hatte. Der Freund war ein Lesender mit einem bewundernswerten Gedächtnis, kein Schreibender, und er war ein Suchender.

    Ich werte noch immer die Befragungen aus, hörte er sich selbst sagen. All die auf Tonband gesprochenen Wünsche, Sehnsüchte, Enttäuschungen: Das Kennenlernen. Das Suchen. Das Finden. Das Verlieren.
    Ein verrücktes Projekt, hatte der Freund damals gesagt, als er damit begann. Und er wiederholte es jetzt wieder.
    Aber gut bezahlt.

    Das Sonderbare war, der Freund hatte einen Vollbart. Hatte er sich den während seiner Krankheit stehen lassen? Eschenbach hatte ihn in seinen letzten Monaten nicht mehr gesehen, war nicht nach Südfrankreich gefahren, als er dort im Sterben lag.
    Das ist ein Stapelplatz der Gefühle. Deine Arbeit wird kein Ende finden, sagte der Freund leise.
    Ja, aber es ist eine Zeit der Reinigung.

    Er war, als er seinen Posten, wie er seinen Aufenthalt hier nannte, im März antrat, frühmorgens zu Fuß zur Insel gegangen. Sein Gepäck, ein Koffer, eine Tasche, sollte am nächsten Tag nachkommen.
    Über Meilen war er auf dieser feuchten Fläche das einzig Erhabene. Ein fernes Grollen ließ ihn aufmerken, ein Blitz könnte hier nur ihn treffen. Er ging über diese graubraune Fläche, in die er hin und wieder bis zu den Knöcheln einsank, Wasser, das sickerte, rieselte, floss, in Prielen, die er durchwaten musste, Wasser, das nach Westen strömte. Der graubraune Blasen bildende, von großen und kleinen Wasseradern durchzogene, feuchtigkeitsgesättigte Boden ging ohne Horizont über in einen verhangenen dunkelgrauen Himmel. Eine tiefe Stille. So muss die Welt kurz nach der Scheidung von Land und Wasser, Himmel und Erde ausgesehen haben. Bewusstlose Leere.
    Er ging den von schwarzborstigen Priggen gekennzeichneten Weg, auf dem nur hin und wieder einmal Radspuren zu sehen waren, in einem Bogen um die eingedeichte Insel Neuwerk herum und dann dem Grau des Horizonts entgegen. Er watete durch kaltes Wasser in den Prielen, und nach eineinhalb Stunden sah er in der Ferne aus dem Grau die Insel Scharhörn auftauchen, eine bebuschte, leicht hügelige Fläche, nicht sehr weit hingestreckt, ein Streifen Gelbgrau, die Dünen nur wenige Meter hoch. Die Stille des Gehens, dieses Hineingehen in Ruhe, Gleichgültigkeit, die Abwesenheit von jener Umtriebigkeit der letzten Tage.
    Er war aus der Stadt aufgebrochen und zum Bahnhof gefahren. Auf dem Bahnsteig wurde er Zeuge eines heftigen Wortwechsels zweier junger Männer, keineswegs zerlumpt oder betrunken, sondern gut gekleidet, Aktentaschen in den Händen, wahrscheinlich auf dem Weg ins Büro oder in die Universität. Er dachte, sie müssten jeden Augenblick mit Fäusten aufeinander losgehen, doch dann drehten sie sich um und gingen auseinander, standen wenige Meter voneinander entfernt da, als hätten sie sich nicht eben noch mit Angeber und Scheißkerl angebrüllt.
    Das war der Abschied von der Stadt gewesen.
    Nach drei Stunden, er hatte sich Zeit gelassen, war die Insel erreicht. An dem sich langsam aus dem Watt erhebenden festeren Boden mit dem Friesenkraut glitzerten feine Eisränder. Den trockenen Sand unter den Füßen, ging er den Pfad zwischen Strandhafer zur Düne hinauf, wo die Hütte stand. Ein weißer Container mit fünf Fenstern an der Längsseite, zum Schutz vor Sturmfluten auf einem Podest von massiven, drei Meter hohen Pfählen stehend. Der mit einem Holzzaun gesicherte Rundgang erlaubte den Blick über die ganze Insel und den Ausblick auf die unbewohnte Nachbarinsel Nigehörn, wo neben ein paar Büschen und Bäumen eine alte, teils eingebrochene Hütte stand. Die Inseln waren noch durch einen breiten Priel getrennt, wuchsen aber, so wie sie langsam nach Südosten wanderten, zusammen.
    Der Inselwart, der vor allem Vogelwart war, lebte allein hier, von März bis Oktober.
    In diesem Frühjahr war die bereits ausgewählte junge Frau, eine Zoologin, erkrankt, wobei erkrankt eine etwas eigenwillige Umschreibung für eine nicht problemfreie Schwangerschaft war. Ein Bekannter, Professor für Ornithologie, dem Eschenbach einmal bei der Auszählung der Vögel geholfen hatte, rief ihn an und erkundigte sich, da junge
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