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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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in einer Scheune geschlafen und sich nach drei Tagen bei Ebbe auf den Weg nach Scharhörn gemacht. Das Betreten der Insel war schon damals verboten gewesen. Er und sein Freund wollten auf die nach dem Krieg im Watt verklappte Munition hinweisen. Die Inselbesetzung nannten sie es heroisch. Nach einer Nacht waren sie, frierend und übermüdet, von der Polizei abgeholt worden. Sie hätten auch nicht länger bleiben können, da sie nicht genug Trinkwasser mitgenommen hatten. Nicht einmal in der Lokalpresse war über ihren Protest berichtet worden.
    Seine Erinnerung: der Wind, der Sand und das Schreien der Vögel.

    Die Anfrage kam also wie gerufen, und da es für ihn keine Verpflichtung gab, die nicht hätte verlegt oder verschoben werden können, war die Zusage einfach gewesen. Er hatte die Freiheit, das zu tun, was er wollte. Der Preis dafür war die Bescheidenheit seines Lebens. Aber darüber sprach er nicht. Es gab für ihn, nach der Katastrophe, nach dem Bankrott, für den er verantwortlich war, auch keinen Grund zu klagen. Er war ganz unten angekommen. Wobei das Wort angekommen falsch war. Er war gestürzt. Jetzt verdiente er mit wechselnden Aufträgen und Arbeiten. Ein recht üblicher Vorgang, den er aus dem Bekanntenkreis kannte. Von jenen, die auch nach dem Rentenbeginn noch weiterarbeiteten, einfach weil sie Lust hatten, und jenen, die es taten, um nicht Sozialhilfe beantragen zu müssen. Hartz IV hieß die sprachliche Verkleidung der sozialen Not. Auch die Unterstützung hätte er in Anspruch genommen, ohne Scham, aber seine Arbeit war interessant, machte ihm sogar Spaß. Seit gut drei Jahren redigierte er für einen Reisebuchverlag Stadt- und Landschaftsführer. Er bewegte sich in Städten und Ländern, die er nie gesehen hatte und nie würde sehen können, und er hatte, sonderbar genug, nachdem er die Berichte korrigiert hatte, nicht einmal mehr das Verlangen, jene Orte zu besuchen. Kathmandu und La Paz, Island und Bhutan. Seine Hauptarbeit bestand darin, die Fakten zu prüfen und die verschrobenen Sätze geradezubiegen. Er sagte für sich biegen , denn er machte tatsächlich die Erfahrung, wie geschmeidig Sätze sind. Gerade dann, wenn sie falsch, schief und krumm sind. Wie erstaunlich originell die Orthographie in ihrer Falschheit sein konnte.
    Hin und wieder las er in einer großen Buchhandlung, die mit gepolsterten Sitzecken Kunden zum Verweilen und Kaufen lockte, in neu erschienene Romane hinein. Er schrieb sich Sätze, sprachlich gelungene wie misslungene, auf. Der Lektor des Reisebuchverlages, dem er hin und wieder Beispiele von solchen Sprachverfehlungen einer hochgelobten Autorin oder eines Autors schickte, riet ihm dann jedes Mal, eine Sammlung zeitgenössischer Stilblüten herauszugeben. Aber dazu hätte er sich diese und mehr Bücher besorgen und lesen müssen, und das war ihm die Sache nicht wert. So blieb es über die Jahre, der Lektor rief ihn hin und wieder an und sagte: Ich habe wieder so einen Sprachverhau über Mexiko. Haben Sie Zeit? Und wenn er Lust hatte, das war die eigentliche Frage, denn Zeit hatte er, sagte er ja und machte sich an die Arbeit.

    Früher hatte er Gedichte geschrieben und auch ein Bändchen, eher ein Heft, in einem Kleinverlag veröffentlicht. Eines dieser Gedichte war während der damaligen Inselbesetzung, wie er und sein Schulkamerad es nannten, entstanden.

Die Botschaft

Unausdeutbar die Keilschrift
Der Spuren am Strand.
Vergeblich folterten Ornithologen
Auf Leimruten
Strandläufer und Austernfischer.
Auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung
Der Assyrologen
Konnte die Schrift nicht entschlüsseln.
Ein Computer schrieb:
Menetekel.
Überbleibsel der Programmierung
Für ein Stichwortregister des Alten Testaments.
Die Botschaft wird uns nicht erreichen
Und ausgelöscht von der Flut
Wird nichts bleiben
Als ein Gerücht:
Vom sechsten Buch Moses’
Vom Stein der Weisen
Von der Weltformel
Hoffnung.

    Übertrieben dramatisch war dieses Foltern dachte er beim Wiederlesen. Und das unausdeutbar ist so gesucht wie überflüssig. Das Weglassen, das Verknappen musste noch gelernt werden. Gewollt erschien es ihm, und, was gegen das ganze Gedicht sprach, er konnte sich nicht mehr in die damalige Stimmung hineinversetzen.

    Anders als bei diesem so deutlichen Bild. Die Frau ging durch die Reihen, ihre Haltung, ihre Größe, dieses Aufrechtgehen, das Nichtumherblicken, kein Suchen, kein Stocken. Sie hatte die leeren Stühle in seiner Reihe gesehen und war ohne zu zögern durch die
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