Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
Vom Netzwerk:
nachzuholen. Warum er sich ausgerechnet Kassel als Wohnort ausgesucht hatte, fragte ich mich nicht. Über seine Vergangenheit wusste ich kaum mehr als die Geschichten, die er manchmal erzählte, wenn wir mit Freunden zusammensaßen. Geschichten von seinen Reisen, von kleinen und großen Abenteuern, denen ich glücklich lauschte, stolz, dass dieser Mann am Ende des Abends mit mir nach Hause gehen würde. Dass ich kaum etwas über die Menschen erfuhr, die er auf seinen Reisen getroffen hatte, fiel mir nicht auf. Adrian und ich gehörten zusammen – nur das war wichtig. Was früher geschehen war, konnte auf unsere Liebe doch keinen Einfluss haben.
    Sieben oder acht Wochen nach unserer ersten Begegnung fragte er mich, ob ich mit ihm ins Sauerland fahren wollte. Zu einem kleinen Mädchen, der Tochter einer Frau namens Gisela, die auch zu der Kommune auf Gotland gehört hatte und inzwischen gestorben war. Es klang so harmlos. Natürlich sagte ich ja.
    Damals lebte Dhanavati noch bei den Großeltern, Giselas Eltern, in Henglinghausen, einem winzigen Dorf. Mit Adrians altem Opel brauchten wir von Kassel aus eineinhalb Stunden. Adrian war sehr still, was ich auf seine Müdigkeit schob: Am Abend vorher waren wir erst spät eingeschlafen. Das Wetter war trist, graue Häuser mit Schieferdächern unter einem grauen Himmel. Im Auto wurde es nicht warm. Ich fror und sehnte mich in Adrians Umarmung zurück.
    Die Großeltern begrüßten uns höflich. Trotzdem fühlte ich mich nicht wohl. Als ich hörte, wo wir hinfuhren, hatte ich mir so etwas wie das Zuhause meiner eigenen Großeltern vorgestellt: ein weiter Garten, ein kramiges Haus, eine große warme Küche voller Nachbarn und Katzen, ein Durcheinander von Gerüchen, Kaffee und Lageräpfel, feuchte Lappen und Holzfeuer und Brot.
    Bei den Reinerts roch es sauber. Wir saßen im ordentlichen Vorderzimmer an einem Tisch mit weißer Tischdecke und tranken Kaffee aus Tassen mit verblichenem Goldrand. Die Großmutter stellte mir Fragen, höflich aber unerbittlich. Wo meine Eltern wohnten. Was mein Vater von Beruf war. Ob ich gern kochte. Ob ich mich darauf freute, als Lehrerin zu arbeiten, und ob ich denn in Berlin bleiben wollte, es müsse doch sehr bedrückend sein, in einer eingemauerten Stadt zu leben. Ob ich mir Kinder wünschte. Bei dieser Frage wurde ich tatsächlich rot.
    Und während die Großmutter mich verhörte, saß stumm und wachsam die kleine Teufelin neben mir. Dhanavati. Dünn, blass, riesige Augen. Mittelbraunes Haar, das zu straffen Zöpfen geflochten war. Sie hatte mich als Feindin identifiziert, kaum dass ich das Haus betreten hatte. Eine halbe Stunde lang ließ sie mich nicht aus den Augen, dann schritt sie zur Tat. Sie stieß meinen Kuchenteller vom Tisch, als gerade niemand hinsah. Sie goss mir ihren Saft über die Hose und behauptete, ich hätte sie geschubst. Später, als sie und Adrian und ich im Kinderzimmer auf dem Fußboden saßen und ihre seltsamen, unkindlichen, abstrakten Malereien betrachteten, spürte ich plötzlich Papier unter dem Fuß – und schon zerrte sie an dem Blatt, bis es entzweiriss, und fing erbärmlich an zu schreien.
    Wie dieses Kind schreien konnte. Adrian versuchte sie zu beruhigen, aber sie schrie nur noch lauter, und ich stand da und begriff nicht, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte Kinder gehütet, seit ich zehn war: bei den Nachbarn, bei Bekannten, später bei meinen älteren Brüdern. Mit ihnen allen kam ich zurecht. Ich verstand nicht, was diesmal anders war. Dass ich die Frau war, mit der Adrian – ihr Adrian, der bisher nur für sie existiert hatte – sich abgab, wenn er von ihr wegfuhr.
    Schließlich kam die Großmutter ins Zimmer, lotste mich hinaus und schickte mich mit ihrem Mann zum Spazierengehen. An diesem kalten Februartag stapften wir einen endlosen Hang hinauf – langsam, weil der Großvater dick und kurzatmig war – und einen frostharten Feldweg entlang, zwischen fahlen Wiesen und nackten Bäumen, und ebenso langsam wieder zurück. Dort wartete Adrian schon im Auto auf mich. Wir fuhren los, ohne dass ich das Haus noch einmal betrat.
    Adrian erwähnte diesen Ausflug nie wieder. Heute kann ich mir zusammenreimen, weshalb er mich zu den Reinerts mitnahm: Er hoffte, es würde einen soliden Eindruck auf sie machen, wenn er eine Freundin vorweisen konnte. Und die Reinerts glaubten vermutlich, ihnen würde an diesem Tag seine Verlobte vorgestellt. Dhanavatis künftige Stiefmutter. Sicherlich hielten sie Adrian für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher