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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
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von ihr gehört?«
    »Ich habe seit zwanzig Jahren nichts von ihr gehört.« Er setzte zum Sprechen an. »Und Adrian auch nicht. Das hätte er mir erzählt.«
    Er schwieg.
    »Wir werden Ihnen da kaum weiterhelfen können«, sagte ich in die Stille hinein.
    Regentropfen liefen über die Scheibe. Die Sonne war hinter dichten Wolken verschwunden. Ich fror. Ich wollte, dass Nilsson ging. Ich wollte, dass Adrian nach Haus kam, ich wollte mit ihm im Wohnzimmer sitzen und ihm von der Arche Noah erzählen und hören, wie er Nina gute Nacht sagte, und ihn neben mir im Bett spüren, warm, schwer und vertraut.
    »Aber er hat sie einmal gut gekannt?«
    »Was? Ja, früher, als sie ein Kind war. Er war mit ihrer Mutter befreundet. In Schweden. Nach dem Tod ihrer Mutter hat er sie noch ein paarmal besucht. Bei ihren Verwandten. Hier in Deutschland. Aber irgendwann wollten die Verwandten nicht mehr, dass er kommt, und das war es dann. Danach hat er den Kontakt verloren.«
    »Wieso wollten die Verwandten nicht, dass er sie besucht?«
    »Woher soll ich das wissen? Es waren einfach engstirnige Leute. Tiefstes Westfalen, vor zwanzig Jahren. Was kann man da schon erwarten?«
    Er warf einen Blick aus dem Fenster, und ich hörte ganz deutlich seine Gedanken: Was ist der Unterschied zu diesem Kaff? Es erdrückte mich, wie er dort saß, auf dem Hocker, groß und selbstsicher. Als wäre es sein natürliches Recht, mich über mein Leben auszufragen. Ich stand auf, ging zur Tür, zog sie auf. Feuchte Luft wehte herein. Das Rauschen der Bäume. Die vertrauten Gerüche. Nässe. Erde. Das ferne Meer.
    Meine Welt. Der Ort, an den ich gehöre. Ich lehnte mich an den Türpfosten, der Wind fuhr kalt in mein Hemd. Aber ich fror nicht. Ich drehte mich zu Nilsson um.
    »Wieso glauben Sie, dass wir wissen, wo sie sein könnte?«
    Er war auch aufgestanden, eine höfliche Geste, die ihn mir noch fremder machte. »Sie hat sich Ihre Anschrift beschafft. Die von Herrn Barnes, genauer gesagt. Also hatte sie wohl vor, sich bei ihm zu melden. Aber sie hat es nicht getan?«
    »Wieso? Wieso sollte sie sich bei ihm melden, nach so vielen Jahren?«
    Ich höre noch meine Stimme, so hoch, so dünn. All meine Angst lag in dieser Stimme, ich breitete sie vor ihm aus und merkte es nicht.
    »Sie ist wohl auf der Suche nach ihrem Vater.«
    Ich versuchte zu lachen. »Na, da ist sie hier aber an der falschen Adresse.«

All meine Angst.
    Zwanzig Jahre lang hatte ich sie begraben. Sehr tief. Sie mit all dem zugedeckt, was Adrian und mich verband. Und das war viel. Achteinhalb Jahre in Berlin, sieben Jahre in Eiderstedt. Der gemeinsame Alltag. Die vielen Gesten und halben Sätze, die beweisen, wie gut man sich kennt. Die gemeinsamen Freunde. Der gemeinsame Kampf mit Rechnungen, Ämtern und zahlungsunwilligen Kunden. Nina. Vor allem Nina. Egal welche Unruhe in ihm weiterlebt, seine Tochter wird er nie im Stich lassen: Das habe ich sehr lange geglaubt.
    Als ich Adrian kennenlernte, war ich neunzehn, wohnte seit drei Monaten in Berlin und studierte lustlos Germanistik und Geschichte. Adrian wohnte in Kassel, besuchte aber oft Freunde in Berlin, und bei diesen Freunden trafen wir uns, auf einer Silvesterparty. Wir redeten ein bisschen, tanzten miteinander, schliefen miteinander, ließen uns fünf Tage lang nicht aus den Augen. Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war so anders als jeder Mensch, den ich kannte. Sohn eines GI , in Deutschland unter Amerikanern aufgewachsen, seit langem mit seinen Eltern zerstritten. Er hatte auf Großmärkten gearbeitet und Lastwagen durch die Sahara gefahren, er hatte Indien bereist und auf Gotland in einer Kommune gelebt, die eine Art Naturreligion praktizierte. Er war überall gewesen und nirgendwo heimisch geworden, sprach ein ungepflegtes Englisch, ein fehlerhaftes Deutsch, etwas Indisch, etwas Französisch, etwas Arabisch, etwas Schwedisch. Nach dieser einen Woche in Berlin war er für mich der Angelpunkt des Universums. Alles, was ich tat, bezog sich auf ihn. Selbst mein Studium, selbst der Beruf, den ich mir ausgesucht hatte – Lehrerin –, der mich schon langweilte, bevor ich ihn ausübte. Ich dachte, durch meine Solidität könnte ich Adrian Halt geben. Ja, das habe ich tatsächlich gedacht. Ich war zehn Jahre jünger als er, ich hatte fast mein ganzes Leben in Husum verbracht –, aber ich wollte ihm Halt geben.
    Adrian lebte damals seit einem Jahr wieder in Deutschland, er jobbte in einer Gärtnerei und versuchte das Abitur
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