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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
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der Ort auf der Karte eingetragen, die mir der Hotelbesitzer geliehen hat. Ein Naturschutzgebiet. Eine Attraktion für Touristen.
    Dort sitzt sie, nur ein Gespenst, und wartet auf ihre eigenen Gespenster. Ihre Mutter vermutlich. Ihren Vater. Adrian, der früher zwischen den Felsen mit ihr gespielt hat, wenn ihre Mutter beten und singen musste und keine Zeit für sie hatte. Sie sitzt dort und wartet. Und Adrian, der sie sucht, geht an ihr vorbei. Ohne sie zu bemerken.
    Dies ist kein Ort, an dem man jemanden findet. Hier gehen die Menschen eher verloren, sie treten hinter einen Felsen und sind nicht mehr da. Man schlendert ein paar Schritte ohne sie weiter, bleibt stehen und schaut aufs Meer, und man hört nur noch das unrhythmische Klatschen der Wellen und das Rascheln und Pfeifen und Sausen des Windes, eine rauschende Stille, die Ohren und Gedanken betäubt: bis man aufschreckt, weil man schon zu lange allein ist, und man kehrt um und ruft und schaut hinter den Felsen, hinter dem der andere verschwunden ist, aber dort sind nur weitere Felsen. Und Wind, und ein Möwenschrei, und Stille.

Als Nilsson fort war, nahm ich meine Schlüssel vom Regalbord und ging zum Haus hinüber. Die Hintertür war geschlossen, in der Küche war nichts verändert. Mein Portemonnaie lag noch immer im Wohnzimmer auf dem Couchtisch, darin steckten Geld und Karten. Der Tisch, an dem ich meine Schreibarbeiten erledige, war so unaufgeräumt wie immer. Ebenso der Tisch in dem kleinen Nebenzimmer, in dem seit kurzem der Computer stand.
    Aber es lag ein fremder Geruch in der Luft. Rasierwasser, Haaröl – irgendetwas jedenfalls, das keiner von uns benutzte. Einer von ihnen war im Haus gewesen. Während der andere – der Große – draußen Wache stand, war der Kleinere durch unsere Zimmer spaziert, hatte in unsere Schränke geschaut, unsere Briefe gelesen, vielleicht sogar den Computer eingeschaltet. Ich stieg die Treppe hinauf, schaute ins Bad, in unser Schlafzimmer, in Ninas Zimmer: überall. Er war in jedem Zimmer gewesen.
    Ich kehrte in die Werkstatt zurück, goss die Kaffeereste weg, schloss ab, ging ins Haus und kochte frischen Kaffee. Wartete. Um sieben Uhr kam Nina, hungrig und voller Geschichten über zwei Jungen, die heimlich beim Basketballtraining zugeschaut hatten. Ich machte Abendbrot, aß mit ihr, überlegte mit ihr, was wir ihrer Cousine zum Geburtstag schenken sollten. Räumte die Küche auf, während sie in ihrem Zimmer Musik hörte. Schaltete im Wohnzimmer den Fernseher ein und sah mir die Nachrichten an. Ging ins Schlafzimmer, sortierte schmutzige Wäsche und stellte die Waschmaschine an. Legte saubere Wäsche zusammen.
    Wartete.
    Es wurde dunkel. Nina ging schlafen. Adrian war immer noch nicht zurück. Wenn er wirklich an einem Boot arbeitete, wieso blieb er so lange aus? Wieso rief er nicht an? Er stand jeden Morgen um halb sechs Uhr auf, normalerweise gingen wir um zehn oder halb elf ins Bett. Er hatte nicht erwähnt, mit wessen Boot er beschäftigt sein würde und wo.
    Weil er es vergessen hatte?
    All meine Angst. Im Februar 1984 hatten wir Dhanavati besucht. Im April 1985 waren wir zusammen nach Marsberg gefahren und von ihrem Onkel weggeschickt worden. Zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Wir hatten ein Kind in die Welt gesetzt, hatten zusammengelebt und uns getrennt und am Ende doch wieder zueinander gefunden. Zwanzig Jahre. Mein gesamtes Erwachsenenleben.
    Aber nicht Adrians gesamtes Leben. Über die Jahre, bevor wir uns begegnet sind, wusste ich noch immer fast nichts. Er hatte zusammen mit Gisela Reinerts in einer religiösen Kommune auf Gotland gelebt, er hatte sie geliebt und ihr versprochen, sich immer um ihre Tochter zu kümmern. Obwohl es nicht seine Tochter war. Wie er sagte. Wer war dann der Vater? Jemand, der auch dort auf Gotland lebte? Warum hatte sich die Kommune aufgelöst? Wann war Gisela gestorben? Wie war Gisela gestorben? Was glaubte Adrian ihrer Tochter heute noch schuldig zu sein? Woraus bestand der Müll in seinem Leben?
    All meine Angst.
    Um zehn Minuten vor elf hörte ich ein Auto vorfahren. Ich schaltete den Fernseher aus und lauschte: Es war unser Lieferwagen. Er hielt gleich vorn in der Einfahrt, wo wir ihn immer parkten, wenn einer von uns spät heimkam und Nina schon schlief. Ich stand auf und ging zur Haustür, schloss auf, drückte die Klinke herunter und öffnete. Da hörte ich jemanden sprechen.
    »Adrian Barnes?«
    Leise drückte ich die Tür wieder zu. Ohne Licht zu machen, ging ich
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