Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
Vom Netzwerk:
dass er ihr damals geholfen hat. Die neuen Papiere hat ihr Nandin beschafft, und Nandin hat auch dafür gesorgt, dass sie für tot erklärt wurde, aber Adrian war derjenige, der ihn dazu überredet hat. Er hat sie als Einziger im Krankenhaus besucht – denn sie war nach dem Sturz schwer verletzt, sie wäre tatsächlich fast gestorben. Es hat lange gedauert, bis sie wieder gehen konnte … Ich verstehe das nicht, Annika.« Auf einmal ist seine Stimme lebendig. Als hätte er vergessen, sich vor mir in Acht zu nehmen, als fände er es plötzlich denkbar, dass nicht jedes Gegenüber ein Gegner ist. »Dass sie von den Klippen gesprungen ist – das geschah aus dem Augenblick heraus. Da war sie verzweifelt. Aber dass sie es wirklich nötig fand, sich jahrzehntelang vor mir zu verstecken … «
    Sie wird sich wohl vor euch allen versteckt haben, denke ich. Vor ihrem ganzen bisherigen Leben. Weil alles so schrecklich schiefgelaufen war. »Sie hat Sie ins Gefängnis gebracht.«
    »Ja sicher! Und ich war wütend. Sehr wütend. Aber ich hätte ihr doch nichts getan!«
    Ich hebe die Schultern. Letztlich glaube ich ihm. Aber auch er muss doch den Hass gehört haben, der gestern in Giselas Lachen mitschwang. In ihrer Stimme, als sie vor dem Waldhaus stand und ihn als Verbrecher beschimpfte. Auch er muss sich schon gefragt haben, ob Gisela damals tatsächlich geglaubt hat, Nandins Aktion richte sich gegen Indrasena. Ob sie nicht doch ihren Guru zu Fall bringen wollte. Um endlich einmal zu ihm durchzudringen.
    »Sie hat sich vor sich selbst versteckt«, sage ich. »Das glaube ich. Vor ihrem eigenen … Unglücklichsein.« Unhappiness . Was für ein unzureichendes Wort. Aber er nickt, er scheint zu verstehen, dass ich mehr meine. Eifersucht. Wut. Jahrzehnte unerfüllter Wünsche.
    Darum ist Adrian sie suchen gefahren. Nachdem er Dhanavatis ersten Internetbericht entdeckt hat. Nicht um Gisela Vorwürfe zu machen, weil sie Nandin geholfen hat, den wunderbaren Bengt ins Gefängnis zu bringen. Sondern weil er erraten hat, wie unglücklich sie gewesen sein muss, um sich dazu verleiten zu lassen. Er wollte sie trösten. Sie aus ihrer Verbitterung befreien. Glaube ich. Vermute ich.
    Und darum ist er am Ende gegangen. Weil Gisela gar keinen Trost wollte. Das ist etwas, das er noch nie ertragen konnte: Wenn jemand neben ihm unglücklich ist und nicht zulässt, dass er etwas dagegen tut.
    »Er wollte ihr helfen«, sage ich laut. »Adrian wollte ihr helfen. Deshalb war er so lange bei ihr. Aber es ist ihm nicht gelungen, und schließlich hat er aufgegeben. – Warum ist er dann nicht nach Hause gekommen?«
    Ich sehe ihm ins Gesicht, während ich frage – und ich sehe, wie er sich vor mir verschließt. »Was? Was weiß ich noch nicht?«
    »Er war bei mir. Vor zwei Wochen. Er ist von Ljugarn aus direkt nach Riga gefahren.« Er spricht nicht gleich weiter, und einen Augenblick lang höre ich ihn sagen: Ich habe ihn umgebracht. Es tut mir leid, Annika. »Er hat mir erzählt, dass Gisela noch lebt. Er fand, ich sollte Bescheid wissen.«
    Ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen. Es verrät mir nichts. Da ist er, der Panzer, den sie alle beschrieben haben. »Und dann? Wohin ist er gefahren? Was hatte er vor?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Er weiß es nicht. Eine so weite Reise, so viele Menschen – so viele unendlich komplizierte Geschichten –, und am Ende stehe ich doch vor einer Wand. Von Gotland ist er nach Riga gefahren. Von Gisela zu Bengt. Und dann?
    »Wieso ist er nicht nach Hause gekommen? Wieso?«
    Etwas entspannt sich in seinem Gesicht, doch er gibt keine Antwort. Bisher haben wir beide Carls frischen Kaffee nicht angerührt. Jetzt nimmt er seine Tasse und trinkt in kleinen Schlucken, als wäre der Inhalt noch so heiß, dass man sich an ihm verbrennt.
    »Wieso?«
    Er stellt die Tasse ab und schiebt sie weg. »Ich weiß es nicht, Annika. Er hat es mir nicht erklärt. Vielleicht sucht er … « Diesmal ist offenbar er derjenige, dem die richtigen Worte fehlen. »… den Ort, an dem er sich selbst verloren hat, irgendwann vor langer Zeit. Vielleicht reist er durch seine Vergangenheit, in der Hoffnung, dass alles besser wird, wenn er ihn findet.«
    Was ist denn so schlecht?, denke ich. Was ist an seinem heutigen Leben so schrecklich, dass er es nicht erträgt? Was meint er denn wiederfinden zu müssen? »Wie kann man sich selbst verlieren?«
    Er stutzt. Dann lächelt er. Sein erstes echtes, spontanes Lächeln. »Sie verstehen das wirklich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher