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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition)
Autoren: Barbara Slawig
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wie viel sie erfuhr.
    Jetzt konnte sie Fragen stellen.
    Hinschauen.
    Und dann einfach gehen.
    Sie wandte sich ab. Ging langsam los, hängte sich die Tasche diagonal über die Brust, suchte zugleich mit dem Blick die Pforte im Zaun und fing an zu laufen. In dem Tempo, das sie kilometerweit durchhalten konnte. An Büschen vorbei. Über eine alte Fahrspur hinweg. Die Frau – es war eine Frau – schlich noch immer am Zaun entlang. Als würde sie etwas suchen. Zehn Meter rechts von der Pforte.
    Jetzt drehte sie sich um. Sah zu ihr her. Aber rührte sich nicht. Ein breites Gesicht, faltig. Vage bekannt, aber woher sie sie kannte, fiel ihr nicht ein. Sie lief weiter, auf die Straße hinaus, nach links, wieder nach links, Richtung Hafen.

ANNIKA
    Weit hinter mir im Wald raschelt etwas. Ein Vogel überquert mit schweren Flügelschlägen die Lichtung. Meine Füße sind kalt, mein Rücken steif. Ich bewege die Schultern und versuche mich zu entspannen, dann taste ich mich zum Weg vor.
    Es gibt keinen Grund mehr, den Atem anzuhalten und jedes Geräusch zu vermeiden. Sie werden mich nicht hören. Sie werden auch nicht aus dem Fenster blicken, denn warum sollten sie mit Zuschauern rechnen. Der Fahrweg führt nirgendwo hin als zum Waldhaus. Außer Ingela kommt niemand hierher.
    Jedenfalls war es viele Jahre lang so. Aber heute hat jemand im Haus auf sie gewartet. Jemand, der sich nicht scheut, in ein Haus der Familie Eglund einzubrechen, oder der noch immer einen Schlüssel besitzt. Den Ingela nicht erwartet hat, den sie trotzdem sofort erkennt. Der Englisch mit ihr spricht, sie aber mit schwedischem Hej begrüßt. Dessen Aufforderung einzutreten sie folgt, als wäre es ganz unmöglich, sich ihm zu widersetzen.
    Bengt Eglund. Alles passt zu dem Bild, das ich mir von ihm gemacht habe. Dhanavati hat kaum über ihren Vater geredet. Aber Jens Nilsson hat ihn mir beschrieben.
    Denn wir haben uns noch einmal getroffen. Kurz vor meiner Abreise, wenige Tage nachdem Dhanavati bei uns in Westerkoog war. Bei diesem Besuch, bei einem Spaziergang am Strand, während es bereits dämmerte und am Bohlenweg die Laternen angingen, hat er endlich darüber gesprochen, was in Dhanavatis Wohnung geschehen war.
    Und er hat mir von seiner Begegnung mit Eglund erzählt. Es war wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Ljugarn, als er vermutlich eben begann, sich damit abzufinden, dass das Leben genau so weitergehen würde wie vor seiner Reise. Am dritten oder vierten Arbeitstag, als er nachmittags vom Institut zu der Sporthalle fuhr, wo er einmal pro Woche Badminton spielte, knallte plötzlich etwas, und der linke Hinterreifen verlor Luft.
    Das geschah auf einer schmalen Landstraße durch ein Waldstück, dem einzigen Abschnitt seiner Route, auf dem wenig Verkehr herrschte. Vielleicht hätte ihn das misstrauisch machen sollen, doch er tat einfach, was jeder getan hätte, er fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Während er den Schaden begutachtete, näherte sich ein anderes Auto. Nilsson wich zum Heck seines Autos aus, um den Wagen vorbeizulassen, der andere bremste jedoch und hielt an. Das Beifahrerfenster öffnete sich, und Nilsson blickte in die Mündung einer Pistole.
    Die nächsten Schritte erfolgten sehr schnell: Profis bei der Arbeit nannte Nilsson es später. Der Fahrer stieg aus, kam auf ihn zu und durchsuchte ihn – ein dicker Mann, der stark nach Schweiß roch. Als er fertig war, stieg der Beifahrer ebenfalls aus, hielt Nilsson aber weiter mit der Pistole in Schach. Er war groß, um die fünfzig und auf lässige Art gut gekleidet.
    »Sie haben hoffentlich einen Ersatzreifen dabei.« Er sprach Englisch.
    Als Nilsson nicht antwortete, sagte er etwas Unverständliches zu dem Dicken, das wie Russisch klang. Der Dicke öffnete Nilssons Fahrertür, zog den Schlüssel ab und schloss den Kofferraum auf. »Da«, sagte er. Ja.
    Inzwischen war ein dritter Mann zu Fuß dazugekommen, in der Hand das Gewehr mit Zielfernrohr, mit dem er wohl den Reifen zerschossen hatte. Er trat zu dem Dicken, legte das Gewehr am Straßenrand ab und nahm Nilssons Wagenheber aus dem Kofferraum.
    »An der Sporthalle wartet ein Freund auf mich«, sagte Nilsson. »Wenn ich nicht pünktlich auftauche … «
    »Ruft er augenblicklich die Polizei. Wer täte das nicht.« Der Anführer öffnete die hintere Tür ihres Wagens. »Mein Name ist übrigens Eglund, falls Sie das noch nicht erraten haben.« Er winkte einladend mit der Waffe. »Fahren wir doch ein Stück. Wir müssen nicht alle
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