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Violas bewegtes Leben

Titel: Violas bewegtes Leben
Autoren: Adriana Trigiani
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liebe.
    Der Mietwagen ist knallrot wie eine Tomate und vollgestopft bis unters Dach, und Dad winkt mir, mich hineinzusetzen. Mom reicht mir die Kamera und setzt sich dann auf den Vordersitz.
    Ich schwenke die Kamera zurück zu Andrew. Er vollführt eine zum Brüllen komische Abschiedszene, bei der er sich über den schmiedeeisernen Zaun vor unserem Haus hängt und so schluchzt, als würde es ihn umbringen, dass ich gehe. Er sieht aus wie Buster Keaton in den alten Stummfilmen. Ich halte die Kamera auf Andrews theatralisches Geheule gerichtet, während ich ins Auto steige, und filme ihn durchs Fenster, bis Dad am Ende der Austin Street um die Ecke biegt und Andrew nur noch so groß wie ein Schokotropfen in der Aufnahme zu sehen ist. Dann wird der Bildschirm schwarz. Andrew Bozelli ist weg. Besser gesagt, ich bin weg.
    Ich habe Brooklyn vor zwei Tagen mit meinen Eltern verlassen. Wir fuhren durch Pennsylvania, ein Stück durch Ohio (wo wir in Sandusky übernachteten) und dann weiter nach Indiana, Richtung Norden nach South Bend. Es kommt mir so vor, als wäre das schon hundert Jahre her. Dabei sind es gerade mal acht Stunden, seit meine Eltern das Gepäck aus dem Auto luden und mich hier zurückließen. Ich vermisse sie schrecklich. Es gab immer nur uns drei, und irgendwie dachte ich, das würde auch in Zukunft so bleiben. Fairerweise muss man sagen, dass meine Eltern mich mit nach Afghanistan nehmen wollten. Aber sie werden mit der Reportercrew einer Nachrichtenredaktion unterwegs sein, die die Arbeit einer Frauen-Hilfsorganisationfilmt, und es wäre unmöglich gewesen, unter diesen Umständen einen Unterricht für mich zu organisieren. Es ist außerdem ziemlich gefährlich, aber daran will ich gar nicht denken.
    Mom verbrachte ein »wunderschönes« Jahr an der Prefect Academy, als sie in der elften Klasse war. Sie ist heute noch mit den Mädchen befreundet, die sie hier kennenlernte. Ihre Mutter, meine Grand, ist Schauspielerin und ging damals mit der Schauspieltruppe des Broadway-Musicals Mame auf Tournee (Theater auf Rädern, wie man so sagt), mit Angela Lansbury in der Hauptrolle (die meine Großmutter sehr verehrt). Grand war die zweite Besetzung für die Rolle der Vera Charles, und es gab einfach keine Möglichkeit, Mom mitzunehmen. Moms Vater hatte wieder geheiratet, und Mom wollte nicht bei seiner neuen Familie leben, deshalb landete sie in der Prefect Academy.
    Die Filmaufnahmen von meinen Eltern heute Nachmittag erscheinen auf dem Bildschirm. Ich war offenbar ziemlich nervös, denn die Kamera ruckelt und zittert.
    Zuerst habe ich meine Mutter gefilmt, an der von Bäumen gesäumten Chaussee, die auf den Brunnen zuführt. Moms Haare waren ganz zerstrubbelt von der langen Autofahrt. Sie hatte sich am Abend vor unserer Abfahrt zu Hause noch Strähnen gemacht, und auf dem Video sehen sie aus wie rote Fäden auf braunem Samt. Mein Dad stellt sich zu ihr und legt ihr den Arm um die Hüfte.
    Mein Vater verliert allmählich seine Haare. Sein Profil ist scharf geschnitten, wie bei einer Zeichentrickfigur. Er sieht gut aus, sagt meine Mutter immer. Ich finde nicht, dass Töchter das Aussehen ihrer Väter angemessen beurteilen können; für mich sieht er einfach wie mein Dad aus.
    Meine Eltern sind ein Team – sie haben sich an der Filmhochschule kennengelernt. Sie sind beide gute Kameraleute, allerdings kann Mom einen Film viel besser schneiden als mein Dad, der, wie meine Mom sagt, dazu neigt, zu großzügig zu sein. Ich finde, das stimmt nicht. Mein Vater hängt einfach sehr an den Emotionen, die er im Film festhält. Deshalb weiß er manchmal nicht, wann er einen Schnitt machen und den Moment für sich sprechen lassen sollte. Während ich die beiden auf dem Bildschirm betrachte, steigen mir Tränen in die Augen. Ein Jahr ist eine schrecklich lange Zeit ohne sie. Ich frage mich, wie ich das überstehen soll.
    Ich wette, sie werden mich nach einer Weile gar nicht mehr vermissen. In letzter Zeit habe ich mich wie Prinzessin Beißzange aufgeführt. (So nennt mich meine Mom, wenn ich stinkig werde, weil sie mir wegen allem ständig in den Ohren liegen.) Ich kann nichts dafür. Ich habe einfach null Geduld. Wirklich. Null. Ich kann mich manchmal selbst kaum ausstehen, ganz zu schweigen von anderen Leuten. Ich glaube, das kommt daher, weil ich immer perfekt sein will. Und obwohl ich das niemals schaffen werde, mache ich mich selbst verrückt, indem ich es ständig versuche. Manchmal frage ich mich, wo das noch mal enden
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