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Violas bewegtes Leben

Titel: Violas bewegtes Leben
Autoren: Adriana Trigiani
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wünschten wir, Mrs. Zidar hätte noch einen weiteren Kartenstapel zum Vorlesen. Wir wollen nicht in unsere Zimmer gehen und unser neues Leben beginnen; wir wollen nach Hause, wo wir wissen, wer wir sind und was wir mögen, wo das Vertraute vielleicht langweilig ist, aber langweilig ist immer noch besser als neu und fremd.
    Romy, Suzanne, Marisol und ich gehen gemeinsam in den Curley-Kerner-Bau zurück. Ich schäme mich ein wenig dafür, dass ich sie heute Nachmittag kurz gehasst habe. Ich hatte immer ein eigenes Zimmer. Ich mag es nicht, wenn mir Leute bei der Arbeit über die Schulter schauen oder wenn ich mir darüber Gedanken machen muss, ob meine Schuhe am falschen Platz stehen. Meine Zimmergenossinnen sind prinzipiell in Ordnung, und wenn ich mir die anderen Neulinge anschaue, von denen einige viel schlimmer wirken als Marisol, Romy und Suzanne, kann ich damit gut leben. Wir haben keine Kichererbse, kein Superhirn und keine Angeberin in unsere Gruppe –ich sollte also dankbar sein für das, was ich habe. Schließlich ist das im Moment wenig genug.
    Als wir am Brunnen vorbeikommen, klettert Marisol auf die Bank und rennt im Kreis herum. Romy lacht, als Suzanne es ihr nachtut. Suzanne zieht Romy hinter sich auf die Bank. Ich öffne das Objektiv und filme meine neuen Mitbewohnerinnen durch das herabströmende Wasser, dem die kleinen Lichter im Brunnen einen silbernen Schein verleihen. Die ganze Szene bekommt dadurch etwas Verträumtes. Das gefällt mir.
     
    Aus der Kante meines Schreibtisches ragen Nägel hervor. Ich werde Trish fragen, ob sie mir einen Hammer besorgt, um sie hineinzuklopfen. So hat sie etwas Nützliches zu tun und klebt nicht an uns wie eine ältere Schwester, die wir gar nicht wollen. Der Tisch ist so alt, dass ich nicht weiß, ob er die Hammerschläge überlebt. Vielleicht endet er als Feuerholz für das nächste Klassenfest mit Lagerfeuer.
    Ich ziehe die Speicherkarte aus der Kamera und lade die Daten auf meinen Computer. Als meine Eltern in meinem Alter waren, mussten sie noch mit richtigen Filmrollen arbeiten, Super 8 oder 16mm, und den Film später ganz altmodisch auf einem Schneidetisch in Stücke zerteilen. Meine Mutter findet die heutige Methode besser, obwohl sie gerne sagt, die neue Technik habe keine besseren Filmemacher hervorgebracht, nur mehr von ihnen. Dad sagt, nur weil jeder eine Kamera in die Hand nehmen kann, heißt das nicht, dass jeder damit spielt wie auf einer Stradivari. Ein Filmemacher muss immer noch eine Geschichte erzählen, von einem bestimmten Blickwinkel aus. Wir können billig Filmaufnahmen machen und sie ratzfatz auf dem Computer zusammenstückeln, aber das bedeutet nicht,dass wir damit eine Geschichte für ein Publikum geschaffen haben. Daran denke ich immer, wenn ich filme: Was will ich eigentlich sagen? Ständig frage ich mich das. Und wenn ich dann fertig bin: Ob sich das jemals einer anschaut?
    Marisol liegt auf dem Bett, blättert in einer Zeitschrift und hört Musik auf ihrem iPod. Sie trägt einen neuen Schlafanzug. Heute Nacht trägt bestimmt jede Schülerin hier einen neuen Schlafanzug. Ich auch. Meine Mutter hat mein Napoleon-Dynamite -T-Shirt und meine gemütlichen Schlabberhosen entsorgt, weil sie Löcher hatten. Das werde ich ihr für den Rest meines Lebens übel nehmen. In dieser Hinsicht sind alle Mütter gleich. Wenn es ins Internat geht, in ein Ferienlager oder zu einem Besuch bei den Großeltern, braucht ein Mädchen eine komplett neue Garderobe, von der Unterwäsche angefangen.
    Davon abgesehen werden wir hier gar keine Zeit haben, Klamotten oder sonst was zu kaufen, weil wir genug zu tun haben werden mit der Lernerei. Außerdem gibt es hier keine Mütter, die uns zuliebe schnell zum Kaufhaus fahren und das besorgen, was wir vergessen haben. Man muss vom ersten Tag an alles haben, was man braucht. Meine Sachen sind alle in Zipp-Beuteln verstaut und nach Jahreszeiten sortiert. In dieser Hinsicht ist meine Mutter sehr gewissenhaft.
    Ab und an singt Marisol unbewusst einen Takt ihrer Musik mit, was total nervt. Wenn sie damit nicht aufhört, werde ich sie darauf hinweisen müssen. Leute, die laut singen, während sie einen Kopfhörer tragen, sollten vom Gemeinschaftsleben ausgeschlossen werden.
    Ich setze meinen Kopfhörer auf und höre den Filmkommentar, den ich zu den Aufnahmen von meiner Verbannung ausBrooklyn gesprochen habe. Meine Mom filmt, wie Andrew und ich uns auf der Treppe unseres Hauses verabschieden, in dem Viertel, das ich so
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