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Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

Titel: Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
Autoren: Jesper Juul
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seine Arme und Beine immer in Bewegung, außerdem redet er selbst während des Films ununterbrochen. In den letzten beiden Jahren hat er sich außerdem ein paar Ticks angewöhnt, zum Beispiel rollt er ständig seinen Kopf hin und her und wirft ihn in den Nacken.
    Er hat sich außerdem sein Leben lang in die Hose gemacht. Er scheint sich nie die Zeit zu nehmen, auf die Toilette zu gehen. Seine Unterhosen werden zwar nicht völlig nass, riechen aber deutlich nach Urin.
    Was mir aber besondere Sorge bereitet, ist, dass er in der letzten Zeit sogar ins Bett macht!
    Marius ist ein ziemlicher Angeber. Er gibt gern damit an, wie viel Geld er hat oder was Dinge kosten. Je teurer, desto besser. Es ist ihm sehr wichtig, bei denen angesehen zu sein, die in der Schule zu den Beliebtesten gehören. Im Kampf um Anerkennung »opfert« er auch gern weniger angesehene Kameraden. Er übernimmt nie die Verantwortung für Unstimmigkeiten und schiebt anderen die Schuld in die Schuhe. Manchmal freundet er sich kurze Zeit mit jemandem näher an, doch wird jeder sein Verhalten schnell leid und distanziert sich wieder von ihm. Es ruft auch niemand an oder klingelt an der Tür, um nach ihm zu fragen. Das ist noch nie vorgekommen. Wenn er versucht, Klassenkameraden anzurufen, gehen sie nicht ans Telefon. Das hat dazu geführt, dass er sehr einsam und frustriert ist. Was natürlich wiederum die Arbeit für die Schule beeinträchtigt.
    Natürlich hat er nicht nur negative Seiten, doch habe ich mich bei meiner Beschreibung auf diese konzentriert. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass er ein sehr neugieriger und empfindsamer Junge ist, der über Charme und Selbstironie verfügt. Außerdem hat er Humor, ist sehr intelligent und liebt seine Familie. Ich weiß, dass in Marius ein guter Junge steckt, aber der zeigt sich leider nur sehr selten und bleibt im Schatten eines Verhaltens, das Ursachen zu haben scheint, die wir weder kennen noch kontrollieren können. Ich bitte Sie inständig um Rat und Hilfe, damit Marius zu sich selbst finden und ein gutes Leben haben kann. Nichts würde mich, uns und ihn mehr freuen.
    Eine verzweifelte und verausgabte Stiefmutter

    Antwort von Jesper Juul:
    Lassen Sie mich zunächst sicherheitshalber betonen, dass ich ganz sicher bin, dass alles, was Sie schreiben, hundertprozentig der Wahrheit entspricht und nicht etwa dem leicht verzerrten Blick einer »bösen Stiefmutter« entspringt.
    Die guten Nachrichten, die zwischen all dem Betrüblichen aufscheinen, sind Ihr Glaube an den »guten Jungen« in ihm und Ihr Wille, ihm zu helfen. Diese Hilfe hat er auch bitter nötig!
    Leider kann ich Ihnen nicht direkt helfen, doch angesichts der geschilderten Schwere der Probleme Ihres Stiefsohns möchte ich Sie unbedingt dazu auffordern, die Hilfe eines Familientherapeuten in Anspruch zu nehmen – circa einmal die Woche in den ersten drei Monaten –, und es wäre optimal, wenn Marius zwischendurch noch Einzelgespräche hätte. Wäre ich dieser Therapeut, würde ich mit Marius und seinen biologischen Eltern beginnen, danach mit sämtlichen Mitgliedern beider Familien weitermachen und schließlich mit den beiden Erwachsenen sprechen, die am ehesten in der Lage sind, dem Jungen das zu geben, was er braucht.
    Es geht hier um die grobe Verletzung der Fürsorgepflicht einem Jungen gegenüber, der seit über zehn Jahren vergeblich um Hilfe gerufen hat. Dass er keine Hilfe bekommen hat, kann ich in vieler Hinsicht gut verstehen, weil sein Schmerz und seine Einsamkeit auf eine Weise zum Ausdruck kommen, der Erwachsene in der Regel mit Erziehungsmaßnahmen begegnen. Aber Sie haben ja selbst die Erfahrung gemacht, dass dies der falsche Weg ist. Sie schimpfen und ermahnen, und dennoch zeigt es keinerlei Wirkung. Nicht weil Ihr Stiefsohn ein schlechter Mensch ist, sondern weil er seine Hilferufe nicht anders zum Ausdruck bringen kann als durch sein schwieriges Verhalten. Er scheint gewissermaßen in einen Spalt gefallen zu sein, der sich zwischen seinen beiden Familien befindet, und dort liegt er immer noch: hilflos, verzweifelt und unverstanden.
    Es wird Zeit, dass alle erwachsenen Familienmitglieder mit Unterstützung eines Therapeuten dafür die Verantwortung übernehmen. Ich kann mir gut vorstellen, wie anstrengend die vielen gemeinsamen Jahre für Sie, Ihren Mann und die kleinen Geschwister gewesen sein müssen. Doch ich hoffe, dass Sie verstehen, dass es Ihr Stiefsohn ist, der am meisten gelitten hat, und dass Sie letztlich alle mit
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