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Vier (German Edition)

Vier (German Edition)

Titel: Vier (German Edition)
Autoren: Max Lupin
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auf der Wand zurückbleiben. Schwarze, kantige Abdrücke.
    Erst als er weitertaumelt und er spürt, wie etwas über seine Hand rinnt, sieht er hinab auf seine Fingerkuppen. Sie sind schwarz und eine sämige Flüssigkeit rinnt daraus hervor. Im Zwielicht des Ganges kann er nicht mehr erkennen. Er will aber auch nicht mehr erkennen. Er will nur an das Ende des Ganges. Endlich hinaus aus dieser schrecklichen Kälte.
    Hinter ihm macht etwas ein Geräusch, so als würde Metall auf Metall gerieben oder als reiben sich mehreren Eisschollen aneinander. Es macht ihm Angst. Vor allem deshalb, weil es näherkommt.
    Er zwingt sich, weiter zu gehen, zwingt sich, nicht an das Geräusch zu denken, sondern an den schmalen Silberstreif, der sich am Ende des Ganges am Horizont zeigt. Dort liegt ein Licht. Er kann es genau erkennen.
    Doch zuerst kommt die Hölle. Das weiß er. Mit jedem Schritt wird der Gang kälter. Mit jedem Schritt wird es schwieriger, den nächsten Schritt zu tun.
    Er weiß, daß er weitergehen muß. Er muß einfach. Er kann nicht anhalten. Hält er an, wird er sterben. Fällt er, dann wird er – so weit vom Ziel entfernt – nicht mehr aufstehen. Dann wird er liegenbleiben. Entweder holen sie ihn dann oder er wird einfach erfrieren. Jämmerlich erfrieren.
    Er kann den Gedanken nicht aushalten. Er ist schon einmal erfroren. Damals. Damals auf dem Weiher. Als er als Kind eingebrochen ist.
    Eiskaltes Wasser ist in seine Lungen geflossen und hat ihn betäubt. Er erinnert sich an einen Lichtreflex irgendwo oben über dem Eis. Das ist das Einzige. Nur ein Licht. Dann Dunkelheit. Ewiges Zwielicht.
    Er kann das nicht aushalten. Er zwingt sich weiter zu gehen. Er will nicht wieder so sterben. Er weiß, daß man ihn dieses Mal nicht zurückholen wird. Nicht. Er wird – sterben.
    Bleibt er stehen, wird er sterben.
    Er spürt nicht mehr, wie die Kälte sich langsam durch sein Gewebe frißt. Er spürt nicht mehr, wie die Taubheit zu einer Leere wird; wie das Leben sich langsam auf den Kern seines Körpers zurückzieht. Er spürt es nicht mehr, sondern zwingt sich ein Automat zu sein; ein Roboter, der Schritt für Schritt durch eine Eiswüste geht.
    Dort vorne ist das Licht. Stell dir vor, wie war es dort sein muß. Wie an einem tropischen Strand. Los, geh weiter. Tu es. Du kannst es.
    Geh weiter! Bleib nicht stehen!

/

    Er versucht den Kopf von dem abzuwenden, was er sieht, aber er kann es nicht. Wie in einem Schraubstock hat man ihn fixiert. Vor sich hängen dreimal zwei Bildschirme und zeigen, wie Unbeschreibliches mit jemandem passiert. Er hat in den letzten Stunden so viel gesehen, daß er schon gar nicht mehr Kotzen könnte bei dem Gedanken daran. Er hat gekotzt, hat alles von sich gegeben. Er hat es nicht ausgehalten, hat es dann doch ansehen müssen, hat es hingenommen, hat versucht, es mit Härte zu sehen. Er hat versucht, sich zu sagen, daß sie es irgendwie verdient haben; doch diese Illusion hat man ihm genommen.
    Sie haben es nicht verdient , hat man ihm gesagt. Sie haben nichts getan. Du hast nichts getan. Aber du wirst etwas tun.
    Du bist Vier , hatte man ihm gesagt. Du bist Vier. Wenn du überleben willst, dann mußt du Vier sein . Merk dir das.
    Er war Vier gewesen. Jedes Mal, wenn man ihm sagte, daß er sein müsse.
    Sein Blick fällt auf die Apparatur, die auf Augenhöhe vor ihm hängt. Sein rechter Arm ist frei und kann sie berühren. Er haßt es. Er haßt seinen Arm. Er möchte ihn abhacken. Aber das geht nicht. Er muß Vier sein.
    Jedes Mal, wenn einer der drei Menschen kurz vor dem Tode stand, stellte man ihm die Frage: Willst du sterben, damit er sterben kann? Er hatte die Frage nicht verstanden, hatte den Gedanken abgetan und doch hatte er jedes einzelne Mal, wenn einer dieser Gequälten vor dem Exitus stand, mit dem Gedanken gespielt, ihn zu erlösen – und somit sich selbst. Aber er war feige gewesen. Und so leben sie weiter.
    Er war auch feige gewesen, als es darum ging, sich selbst zu erlösen. Er wollte nicht sterben und wußte nicht einmal, warum. Jedes Mal, wenn sie ihn fragten, ob er sterben wolle, hatte er sich dafür entschieden, die Vier zu drücken. Auf der flachen Apparatur vor ihm prangten die Zahlen Eins, Zwei, Drei, Vier. Er hatte immer nur die Vier gedrückt, weil er wußte, daß alle anderen seinen Tod bedeuten würden. Er hatte sich für die Vier entschieden. Die Vier mußte leben. Sie mußte!
    Ich bin Vier.
    Das leise Raunen der Stimmen in dem bläulich beleuchteten Raum
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