Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
schnitt er Käse und Wurst, er füllte die Regale und saß an der Kasse. Schon auf dem Weg hinüber, ja eigentlich noch bevor ich überhaupt Münzen aus der Sparbüchse gefischt oder von meinem Taschengeld abgezweigt hatte, überlegte ich mir, gegen wie viele Colafläschchen, weiße Mäuse, Lutscher oder Lakritzschnecken ich den Betrag, den ich zur Verfügung hatte, eintauschen könnte. Kam ich durch die Tür, patrouillierte Herr Weidmann wie fast immer mit seiner Etikettierpistole, die wie eine Weltraumwaffe aussah, aber bloß kleine Preisschilder ausspuckte, durch seinen Laden – aufgeregt wie ein großer Hamster, der durch seinen Käfig turnt – und schoß mir oft erst einmal ein Preisschildchen auf den Arm. Mal sehen, wieviel du heute kostest, sagte er und schaute auf das frische Etikett. 99   Pfennig? Viel zu teuer! Für den Preis werde ich dich niemals los. Die Schildchen kamen von einer Rolle und wurden von einer Zunge auf einem verpackten oder unverpackten Produkt abgelegt und klebten dort fest. Am Rand stand
DM
, das D über dem M und links daneben, in größeren Ziffern, der Preis. Manche waren leuchtend orange, andere schlicht weiß, und häufig war der aufgedruckte Preis nur blaßgrau und gerade mal so noch zu erkennen. Der Umriß dieser Etiketten sah einer bestimmten Sorte von Verbundpflastersteinen ähnlich, die nicht selten vor den kleinen Rewe- oder Edeka-Geschäften, in denen diese Preisschildpistolen ebenfalls klapperten, verlegtwaren. An der Stanzung im Papier sollte das Preisschild zerreißen, falls der Versuch unternommen wurde, es abzupiddeln, um es auf ein anderes, vermutlich teureres Produkt zu kleben. Was allerdings, war man vorsichtig genug, gar nicht passierte. 45
    130
    Wieder bin ich ein kleines Stück vorgerückt und bin, fast wundere ich mich, kein bißchen ungeduldig. Es gefällt mir heute hier, mir ist, als hätte ich eine lange Reise unternommen und am Ende den Weg nach Hause gefunden, nicht mehr und nicht weniger, aber immerhin. Manchmal staune ich tatsächlich, daß ich abends oder nachts ins richtige Haus zurückfinde, mein erster Gedanke, noch bevor ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen habe, ist fast immer der: was für ein Glück, daß ich von allen Wohnungen inallen Häusern dieser Stadt genau diese Tür, die, hinter der meine Wohnung liegt, gefunden habe. Einmal, da war es noch gar nicht wirklich spät und ich hatte kaum getrunken, habe ich die Haustür geöffnet, bin das Treppenhaus hinaufgestiegen und fand auf dem Treppenabsatz, wo eigentlich meine Wohnungstür sein sollte, nichts. Gar nichts. Keine Tür. Nur Wand. Verputzte Wand. Und ich fragte mich, was hat das zu bedeuten, wieso ist meine Wohnung nicht mehr da? Ich überzeugte mich, daß ich im richtigen Stockwerk war, stimmt, dritter Stock, und sowohl das geschnitzte Treppengeländer als auch die Wand und der Boden unter dem Kokosläufer waren in der creme-orange-gelb-roten Farbkombination gestrichen, die mir jeden Morgen, wenn ich aus meiner Wohnung trete, in den Augen brennt. Dann erkannte ich an der Fußmatte vor der Nachbartür, daß dort nicht meine Nachbarin, sondern jemand anders wohnte. Aber wie konnte das sein? Ich ging ein zweites Mal hinunter, und erst als ich wieder auf der Straße stand, bemerkte ich, daß ich, was mir selbst sturzbetrunken noch nie geschehen war, die falsche Eingangstür genommen hatte – nicht die links, sondern die rechts der Einfahrt. Mein Schlüssel paßt auf beide.
    131
    In einer anderen Phantasie komme ich eines Abends nach Hause und sehe im Flur, da, wo sich das Telephon in seiner Basisstation auflädt, zwei oder drei Pinguinpostkarten hängen, sehe Bilder von Kindern, die ich nicht kenne, und das einer Frau, deren Gesicht mir nichts sagt. Ich weiß, daß es meine Wohnung ist und ich mit der Frau, die Pinguinpostkarten sammelt, verheiratet bin und Kinder habe,alles andere habe ich vergessen, ich erinnere mich an nichts und muß in der engen Küche Leberwurstbrote essen, obwohl ich Leberwurst doch gar nicht mag. Plötzlich, hier in der Schlange an der Kasse, überfällt mich die Angst, daß ich, gleich nachdem ich bezahlt und die Einkäufe eingepackt und den Wagen zurückgebracht haben werde, vor dem Supermarkt stehe und nicht mehr weiß, wo ich wohne und wie ich zurück auf mein Sofa im Zimmer hinter meinem Pfandflaschenbalkon kommen soll; kein Wunder, daß ich nun ein Lied von Laurie Anderson im Ohr habe, die Melodie geht mir schon länger, mindestens seit dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher