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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel
Autoren: David Wagner
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holte meine Großmutter vorzeitig ab, ich war als Anstifter entlarvt worden. Im Jahr darauf, aber das tat mir nun gar nicht leid, bin ich von dem Nachbarsmädchen nicht mehr eingeladen worden, die Zeit der Kindergeburtstage war vorbei.
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    Der Mann mit der Wampe hat aufgehört, auf seinem Einkaufswagen herumzutrommeln, er schaut, offenbar verärgert, in meine Richtung, als hätte ich die Gartenzwerge in seinem Vorgarten umgeworfen. In fremde Einkaufswagen zu starren gilt als ähnlich ungehörig, wie während der Wartezeit an einer roten Ampel in den Innenraum eines in der Nebenspur stehenden Wagens zu sehen. Die auf die Ampel konzentrierten Fahrer spüren die neugierigen Blicke fast immer und drehen sich irritiert, oft auch gestört zu einem hin. Ich frage mich dann, warum sie meinen Blick wohl spüren. Woher wissen sie, daß sie beobachtet werden?
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    Eigentlich sonderbar, daß in Supermärkten so selten jemand durchdreht. Wir Kunden haben uns unter Kontrolle, nehmen uns nicht mehr, als wir bezahlen können, reißen keine Verpackungen auf und schieben unsere Einkaufswagen ganz gesittet durch die Gänge, wir randalieren nicht und warten geduldig in einer der Schlangen vor den Kassen. Deshalb ist es eine Meldung wert, wenn jemand, wie ich kürzlich gelesen habe, mit einer Haushaltsschere vom Sonderpostentisch auf eine Verkäuferin losgeht und diese schwer verletzt. 41
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    Jeden Tag begegnen wir unzähligen, wildfremden Menschen und tun, als wären sie gar nicht da. Es ist ja noch gar nicht so lange her, da war es für viele ein Erlebnis, jemandem zu begegnen, den sie noch nie zuvor gesehen hatten. Eigentlich sind wir doch Jäger und Sammler, die eben erst angefangen haben, Vieh zu halten und Ackerbau zu betreiben, und nun, sechs- oder achttausend, höchstens zehntausend Jahre später, haben wir schon Supermärkte, die keineswegs jeden Tag überfallen und geplündert werden. L. aber erinnerte sich an eine Plünderung, die einzige, von der ich weiß, und ausgerechnet bei ihr wollte sie dabeigewesen sein. Sie meinte die berühmte Bolle-Plünderung am Rande einer Kreuzberger Erster-Mai-Demonstration vor soundso viel Jahren, L. war damals fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und gerade aus ihrem Dorf, in dem die Metzgerin immer alles wußte, nach Berlin geflohen. Ob sie während dieser aufregenden Zeit an besagtem Erstem Mai wirklich am Görlitzer Bahnhof und im Supermarkt in der Wiener Straße dabeigewesen ist, weiß ich nicht, vielleicht war es wieder eine ihrer Erfindungen, mit denen sie sich, was sie doch gar nicht nötig hatte, interessanter machen wollte. Matsch von den vielen ausgelaufenen Flüssigkeiten habe knöchelhoch am Boden gestanden, die umgekippten Regale hätten zwischen den Scherben und aufgeweichten Packungen gelegen, alles, was zerbrechen konnte, sei zu Bruch gegangen, aber ein paar Konserven habe sie noch gefunden, die Zigaretten, der Schnaps und das Dosenbier seien natürlich längst weg gewesen, und dann sei der Pyromane vorbeigekommen und habe den Laden angezündet. Heute steht dort, nachdem die Supermarktruine fast zwanzig Jahre eingezäunt verfiel, eine Moschee.
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    Der Brauch der alten Azteken, alle zweiundfünfzig Jahre Töpfe, Teller und Einrichtungsgegenstände, den gesamten Hausrat also kaputtzuschlagen, erscheint mir auf einmal sehr sinnvoll. Die Azteken wußten, daß es hin und wieder ein wenig Zerstörung braucht, um Platz für Neues zu schaffen. Vielleicht sollte ich die Teller, von denen L. gegessen, und die Gläser, aus denen sie getrunken hat, an die Wand oder aus dem Fenster werfen und die Töpfe, in denen unser Essen gekocht wurde, zum Alteisen geben und die Laken, auf denen wir geschlafen haben, zerschneiden oder vom Altkleidercontainer schlucken lassen und diesen Supermarkt, in dem sie mir immer wieder begegnet, einfach anzünden. In einem anderen Leben, wäre ich etwa vierzig Jahre früher geboren, hätte ich vielleicht tatsächlich auf die Idee kommen können, ein Geschäft oder gleich ein ganzes Kaufhaus 42 in Brand zu stecken. Vielleicht wäre ich damals der Überzeugung gewesen, auf diese Art ein Zeichen gegen den Vietnamkrieg, die Ausbeutung des Menschen oder den sogenannten Imperialismus zu setzen. So eine Überzeugungkommt mir heute seltsam vor, wahrscheinlich aber war sie das damals auch schon.
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    Über die Schiebestange meines Einkaufswagens gelehnt, schaue ich auf das helle Stück Haut, das zwischen dem oberen Saum des Kleides und dem Haaransatz der Frau vor mir
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