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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Autoren: Marion Schreiner
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das Leben aus.
„Sie ist tot!“, schrie ich.
„Wer ist tot?“, fragte Calhound.
Jenny sagte: „Vielleicht meint er seinen Bruder Kevin oder seinen Vater. Die sind vor einigen Monaten kurz hintereinander verstorben.“
Jemand nahm meine Hand. Ich erschrak zutiefst, fühlte Chris‘ Glied an meiner Hand, warm, glitschig, steif. Mir entglitt ein Schrei, und das Glied zog sich zurück.
Ich starrte weiter auf die Hecke. Warum unternahm niemand etwas? Vielleicht konnte man Sarah noch reanimieren.
Ich sah, wie Chris von ihr abließ und seine Hose wieder richtete. Vor ihm lag seine Mutter auf dem Boden, in einem rosa Minikleid. Das gleiche, das Sarah soeben getragen hatte.  „Jeder bekommt das, was er verdient“, sagte er zu dem leblosen Körper.
Ich sah, wie Chris neben ihr im Gras mit beiden Händen zu graben begann.
Jemand brachte heißen Kaffee zu uns an den Tisch.
„Trink das“, sagte Jenny.
„Er gräbt sie ein“, sagte ich.
„Trinken Sie das“, hörte ich auch Steve sagen.
„Aber wir müssen ihr helfen. Vielleicht lebt sie noch.“
„Seine Mutter vielleicht“, hörte ich Jenny flüstern. „Sie ist vor knapp vier Jahren an einem Gehirntumor verstorben.“
„Ja“, sagte ich, „seine Mutter.“
Alle nickten. Endlich verstanden sie mich.
„Dann tut uns ein heißer Kaffee jetzt gut“, sagte Calhound.
Ich sah, wie das Loch, das Chris buddelte, größer und größer wurde. Direkt neben seiner Mutter.
„Ich schlage vor, wir warten mal ab“, hörte ich Steve sagen.
Nancy, seine Frau, kam dazu. Sie brachte Plätzchen mit. Wunderbar! Eine richtige Beerdigungsfeier! Nancy zog sich einen Stuhl dazu.
„Gleich schmeißt er sie ins Loch“, sagte ich, „dann können wir nichts mehr tun.“
„Sicher ihre Beerdigung“, flüsterte Jenny, und Calhound nickte. Endlich hatten sie mich verstanden.
„Jetzt können wir ihr nicht mehr helfen“, sagte ich und griff nach einem Plätzchen.
„Nein, können wir nicht“, bemerkte Calhound und griff ebenfalls nach einem Plätzchen. „Wir lassen sie jetzt in Frieden ruhen.“
„Man kann nicht immer allen helfen“, sagte ich und trank heißen Kaffee dazu. Mein Blick zur Hecke verschwamm. Ich weinte. „Es ist vorbei.“
Ich sah, wie Chris seine Mutter ins Loch stieß und es wieder zuschüttete.
„Vorbei“, sagte nun auch Jenny.
Chris erschien an der Seite der Hecke. Alleine. Er stand da und sah zu mir herüber. Er grinste und winkte. Seine Hände waren schmutzig. Voller Erde. Ich winkte zurück. Auch meine Hände waren voller Erde. Vater und Sohn hatten im Dreck gebuddelt.
Dann verschwand Chris wieder hinter der Hecke. Ich sah durch sie hindurch, wie er ein zweites Grab mit seinen Händen auszugraben begann. Ein zweites Grab? Für wen? Für seinen Vater?
„Er hebt noch ein Grab aus“, sagte ich leise und sah entsetzt in die kleine Kaffeerunde.
„Für wen?“, fragte Jenny.
„Vielleicht für seinen Vater.“ Das war Calhounds Stimme. Ich nickte. Jenny nickte. „Lass ihn.“
Ja“, hörte ich Calhound flüstern, „er nimmt gerade Abschied von seiner Familie.“
Alle nickten.
Chris buddelte weiter. Ich sah, wie er schwitzte. „Dad“, hörte ich ihn sagen. „Darf ich dich Dad nennen?“
Meinte er mich? Ich, sein Dad?
„Besser nicht“, antwortete ich erschrocken.
„Warum nicht?“, hörte ich Steve fragen.
„Weil er dann mich einbuddelt!“ Ich sah Steve ins Gesicht. Der sah Calhound an.
Siehst du, jetzt weißt du auch nicht mehr weiter, dachte ich bei mir.
„Wer?“, hörte ich jemanden fragen.
„Chris“, antwortete ich brav. Schweigen.
„Wo ist Chris übrigens?“, fragte Jenny endlich und brachte damit die Sache ins Rollen.
„Hinter der Hecke. Er hat Sarah begraben. Jetzt will er mich begraben.“
Alle sahen zur Hecke, dann zu mir.
„Wir sollten mal nach ihm sehen“, sagte Jenny und erhob sich.
Ja, dachte ich, und feststellen, wie weit mein Grab ist. „Das werde ich selber tun“, sagte ich, ging an Jenny vorbei und rannte zur Hecke. Ich hörte, wie alle hinter mir her rannten.
Als ich um die Ecke bog, sah ich, wie Chris das Grab seiner Mutter mit verschiedenen Blumen bepflanzte. Die Anzuchttöpfe lagen verstreut um ihn herum.
Wir alle sahen, wie er pflanzte. Die Köchin kam hinzu und sagte: „Macht er das nicht schön? Ein Prachtkerl, dieser Chris.“
Alle nickten, außer ich. Ich hielt Ausschau nach dem anderen Grab, was Chris auszuheben begonnen hatte und hörte, wie die Köchin sagte: „Gleich kann er mit dem Spaten da hinten anfangen.“
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