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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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macht keine Schritte, die man in der Tanzschule lernt, aber sie hat ein gutes Rhythmusgefühl. Eigenartig, denke ich, sie war nie ein sportliches Kind. Der Koch klatscht ab. Von ihm hat sie es nicht, das Bewegungstalent. Um elf gehen die ersten Gäste. Natascha sieht müde aus, sie hält trotzdem bis nach Mitternacht durch. Wir sammeln die Geschenke ein, packen die Blumen ins Auto, räumen ein bisschen auf. »Erschöpft ?« , frage ich Natascha. »Ja«, sagt sie, »aber es war ein schöner Abend .« »Wo willst du denn schlafen ?« »Bei dir.«

*

    Klagende Partei: Dr. Martin Wabl Richter i. R. Fehringerstraße 8280 Fürstenfeld Beklagte Partei: Brigitta Sirny Arbeiterin Rennbahnweg 1220 Wien Wegen: Wiederaufnahme gem. § 530 Abs. 1 Z 7 ZPO € 5.087,10 s. A.... Durch die Zeugenaussage der Natascha Kampusch kann nun nachgewiesen werden, dass Brigitte Sirny, die Beklagte, als Mittäterin ihre Tochter sexuell missbraucht und in der Folge Wolfgang Prikopil zur Entführung ihrer Tochter auf dem Schulweg angestiftet hat, um dadurch zu verhindern, dass diese den sexuellen Missbrauch entsprechend aufdeckt, wodurch Brigitta Sirny eine entsprechende Haftstrafe erwarten gehabt hätte. Durch diese Zeugenaussage wäre eine günstigere Entscheidung herbeigeführt worden, wobei ich ohne mein Verschulden außer Stande war, dieses Beweismaterial vor Schluss der mündlichen Verhandlung geltend zu machen...
    Beweis: Natascha Kampusch als Zeugin p. A. ihres Betreuers Univ.-Prof. Dr. med. Max GH Friedrich, 1080 Wien Vorakt IC 1466/OOa des BG Fürstenfeld, dessen Beischaffung beantragt wird. Die Sonnenblume ist wieder da. Mitsamt ein paar prachtvollen Stilblüten. Nicht einmal der Verbrecher ist richtig geschrieben. Ich lege die Klagschrift aus der Hand. Was bildet sich der eigentlich ein ?, denke ich. Die Natascha ist fast ein Jahr wieder in Freiheit. Jeder, der es wissen will, kann sich davon überzeugen, wie wir zueinander stehen. Man braucht nur die Zeitungen lesen. Und jetzt soll sie vor Gericht aussagen, dass ich sie sexuell missbraucht habe. »Kommt überhaupt nicht in Frage«, sage ich laut. »Kommt überhaupt nicht in Frage .«

*

    Ich schlafe wieder auf der Couch. Ich habe wieder meine Nervenflecken.
    »Da«, ich halte meinem Psychiater meinen Arm hin, »alles wegen diesem Wabl .« Der Psychiater begutachtet die geröteten Hautstellen. »Psychosomatisch«, sagt er, »klar, so was beschäftigt einen .« Einmal die Woche bin ich bei ihm. Die Treffen mit Nikolaus Tsekas von Neustart waren seltener geworden, irgendwann hatte ich sie dann gar nicht mehr gebraucht. Mit den Grabungen im Teich, wo der Grizzly nach Nataschas Leiche suchen hat lassen und den Beschuldigungen des pensionierten Richters hatte ich wieder Hilfe nötig. Ein Psychiater hat sich meiner angenommen. Ich mag das Wort Psychiater nicht, ich nenne ihn meinen Vogerldoktor. Er schaut aus wie jemand, der Opern mit langen Passagen für Flöten komponiert oder dunkelgrüne Bilder mit vielen Bäumen malt. Seine braunen Augen mit den dichten Wimpern ruhen auf allem, was er betrachtet. Seine Stimme besänftigt. Er ist einer jener Persönlichkeiten, neben denen man keine Faust mehr machen kann, wenn sie reden. »Beschäftigt ist gut«, sage ich. »Haben Sie die Zeitungen gelesen? Man unterstellt mir, dass ich absichtlich nicht zur ersten Verhandlung erschienen bin. Dabei habe ich nur die Vorladung nicht gekriegt. Irgendein Problem mit der Post, die haben mir das nicht zugestellt. Der Richter hat sich enorm aufgeregt .« »Sie waren aber doch in Gleisdorf unlängst«, sagt der Doktor. »Ja, das war der zweite Termin. Irrsinnig viel Presse. Einer war sogar von der Daily Mail da, ein Engländer, und einer vom Stern, aus Deutschland, der wollte unbedingt mit mir auf einen Kaffee gehen. Ja, hab ich gesagt, aber erfahren werden Sie nichts von mir. War auch so .« »Was ist bei Gericht herausgekommen ?« »Der Richter hat gesagt, er wird versuchen, das Verfahren so schnell wie möglich zu bearbeiten. Ist alles eine Farce .« »Sie gehen gut damit um«, sagt er. Solche Feststellungen sind selten. Psychiater reden sonst fast nur in Sätzen mit Fragezeichen hinten dran. »Sagen Sie .« Er wartet, bis ich weiterspreche. »Die Leute halten mich für kalt, wenn ich mich bemühe, gefasst zu sein .« Ich überlege eine Weile. »Ich glaube, das kommt von meinem Vater. Rede, wenn du gefragt wirst, hat er immer gesagt. Und: Ein Bub weint nicht. Ich bin kein Bub, aber geweint habe ich trotzdem
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