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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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habe ich Ihnen doch schon erzählt!«
    »Oh, bitte, Oliver, erzähl es mir noch mal«, unterbrach ich ihn. »Ich habe vor lauter Schreck kaum etwas verstanden!«
    »Ich heiße Roman«, sagte mein Sohn. »Roman Stiller.«
    »Ja, natürlich. Verzeihung. Daran muss ich mich erst gewöhnen.« Im selben Moment hörte ich ein Geräusch aus dem Flur und zuckte zusammen. O nein! Nicht jetzt! Ich sah Mutters Umrisse durch den Milchglaseinsatz in der Wohnzimmertür. Sie sollte doch gar nicht mehr alleine laufen! Ich sah, wie sie mühsam die Toilette aufsuchte. Normalerweise wäre ich jetzt aufgesprungen und hätte ihr geholfen. Doch meine Beine versagten ihren Dienst. Ich konnte doch jetzt nicht sagen: »Warte mal kurz, Junge, bleib dran, ich muss deine Oma aufs Klo begleiten!«
    »Meine Eltern waren das Beste, was mir passieren konnte«, sagte Oliver mit seiner sonoren Stimme.
    Das gab mir einen schmerzhaften Stich. Das Beste, was ihm passieren konnte, wäre ICH gewesen! Sie waren nur das Zweit beste! Ein dicker Kloß steckte mir im Hals. Trotzdem. Es war ihm gut ergangen. Mehr wollte ich gar nicht wissen, oder etwa doch? Ich schluckte. War es nur Erleichterung oder auch Schmerz, die mir Tränen in die Augen trieben?
    »Mein Vater ist Reeder und besitzt einige Kreuzfahrtschiffe, auf denen ich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe. Stiller Cruises. Kennen Sie sicher. Ich habe Ihnen doch schon meine Reisen nach Amerika, Australien, Asien und in die Südsee geschildert!«
    »Ja, natürlich«, flüsterte ich. Ich kannte keine Stiller Cruises. So etwas ließ unser Geldbeutel nicht zu. »Und deine – ähm – Mutter?« Dieses Wort wollte mir so gar nicht über die Lippen. Sollte ich ihn auch siezen? Ich räusperte mich und versuchte es erneut. »Ihre Mutter? War sie immer mit dabei?«
    »In den Schulferien sind wir auf Vaters Schiffen mitgereist.« Oliver lachte leise. »Doch irgendwann wurde uns das zu langweilig. Dann sind wir an Land geblieben, wir zwei. Wir waren ein Herz und eine Seele.«
    Autsch! So genau wollte ich es auch wieder nicht wissen. Gern hätte ich eingestreut, dass auch meine Mutter und ich ein Herz und eine Seele waren, aber ich brachte kein Wort über die Lippen.
    Er machte eine kleine Pause, räusperte sich. »Aber meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.«
    Nein!, wollte ich brüllen. Ist sie nicht! Sie LEBT! Sie sitzt hier und telefoniert mit dir! Aber ich hörte mich höflich sagen: »Oh, Oliver, das tut mir entsetzlich leid!«
    »Ich heiße Roman«, wiederholte der Mann am Telefon, der mein Sohn war.
    »Entschuldige, ich bin so durcheinander.« Ich hatte dreißig Jahre lang »Oliver« gespeichert, wie sollte ich das in wenigen Minuten in »Roman« ändern? Oliver, nein, was sag ich, Roman machte eine kleine Pause. Dann sprach er weiter: »Mutters Tod belastet mich sehr. Sie war die beste Mutter der Welt. Sie hat alles für mich getan. Ich habe sie vergöttert. Sie fehlt mir.«
    Mein Herz wusste nicht mehr ein noch aus vor Schmerz. Musste er mir das gleich beim allerersten Telefonat sagen? Einer seits wollte ich es wissen, andererseits wollte ich hören, dass er MICH vermisst hatte, MICH brauchte und nun zu MIR zurückkehren würde. Was für egoistische Gedanken! Ich musste mich am Riemen reißen. Ein Kinderreim aus dem Ferienlager am Wolfgangsee schoss mir durch den Kopf. In diesem Zusammen hang schien er mich grausam zu verhöhnen: Verschenkt ist verschenkt. Wieder holen ist gestohlen.
    Die Klospülung rauschte. Mutter machte sich im Bad zu schaffen. Ich hörte sie am Waschbecken hantieren. Ein Zahnputzbecher fiel um. Wie elektrisiert zuckte ich zusammen. Sie brauchte meine Hilfe! Doch ich konnte dieses Gespräch unmöglich beenden.
    »Ich kann Sie gut verstehen«, versuchte ich den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. »Auch MEINE Mutter steht mir sehr, sehr nahe. Sie ist schon gesegnete einundneunzig!«
    »Aha«, sagte er. »Dann habe ich ja noch eine biologische Großmutter.«
    »Genau!«, erwiderte ich schnell. »Und ich biologische Enkelkinder.«
    Biologisch. Wie das klang. So amtlich, nach Brief und Siegel. Eine Pause entstand.
    »Ich möchte nicht, dass dieses Telefonat irgendwelche Verpflichtungen nach sich zieht«, sagte er schließlich. »Ich wollte nur wissen, ob Sie auch wirklich meine Mutter sind.«
    »Ja«, beeilte ich mich zu sagen. »Klar.«
    Was denn für VERPFLICHTUNGEN?
    »Mein Vater war sowieso vehement dagegen, dass ich Sie anrufe.«
    »Das kann ich
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