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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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in den Kühlschrank.
    »Ich glaube, er will dir einfach mal wieder Hallo sagen.«
    Ich seufzte. »Mutter. Bitte hör endlich auf, mich mit Rainer zu verkuppeln.« Mit einem Joghurt und einer Serviette setzte ich mich zu ihr. »Hier. Vanille. Deine Lieblingssorte.« Mutter ließ sich folgsam füttern.
    »Er wäre immer für dich da, mein Kind.«
    »Ja, ich weiß. Es ist schön, wenn man nette Nachbarn hat.«
    »Wenn ich mal nicht mehr bin.«
    »Mutter: Erstens bist du noch, und zweitens bin ich erwachsen.«
    »Aber du brauchst doch jemanden …« Mutter bekam feuchte Augen. »Du warst doch noch nie allein auf dich gestellt …«
    »Aber Mutter!« Ich wischte ihr mit dem Serviettenzipfel eine Träne ab, die sich gerade verselbstständigen wollte. »Was sind denn das heute für düstere Gedanken?«
    »Ich habe Angst, dass ich bald abkratze.«
    Oh. Dieses Gespräch nahm eine immer unerfreulichere Wendung. »Wir müssen alle eines Tages sterben!«
    »Aber ich habe vielleicht nicht mehr lange …« Sie sah mich mit einem verzweifelten Lächeln an.
    Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Diesen Spruch hörte ich nun seit über dreißig Jahren. Seit dreißig Jahren sagte sie: »Das könnte mein letztes Weihnachten sein. Das könnte mein letzter Frühling sein. Das könnte mein letzter Muttertag sein.« Jeder Feiertag wurde von ihr auf diese Weise anmoderiert.
    Jetzt sagte sie weise: »Das könnte mein letzter Sommer sein.«
    Mir gefror das Lächeln auf den Lippen. »Dann lass ihn uns doch noch genießen! Komm, ich bringe dich auf den Balkon.«
    Energisch zog ich die Vorhänge auf und schob meine Mutter hinaus in die Sonne.
    Auf dem Balkon nebenan hantierte Rainer. Im Moment hängte er seine gewaschenen Hemden umständlich auf einen Wäscheständer. Alle hatten dieselbe undefinierbare Form und Farbe und waren von der Marke »Keiner wäscht Rainer«. Rainer war immer zufällig auf dem Balkon, wenn unsere Balkontüre aufging. Er schien eine Art Frühwarnsystem in seiner Wohnung zu haben: Achtung, die Nachbarbalkontür! Wenn das Alarm schlug, flitzte er aus seinem Bau, um Witterung aufzunehmen. Ich warf einen Blick auf seine unsägliche Wachstuchtischdecke, auf der seine Kakteensammlung stand. »Hallo«, sagte ich freundlich.
    »Oh, Carin, gut, dass ich dich sehe!« Rainer wurde ein bisschen rot. »Grüß Gott, Frau Bergmann!«, begrüßte er meine Mutter artig.
    »Er ist so ein netter Mann!«, flüsterte die mir unüberhörbar zu. »Er braucht dringend eine Frau im Haus!«
    »Mutter!«, zischte ich zurück. » DENK nicht mal dran!«
    Das hatte er gehört.
    Seine Unterlippe zitterte leicht, und er steckte die Hände in die Taschen seiner ausgebeulten Cordhosen. Sein schütterer Haarkranz lag wie ein verdorrter Adventskranz um seine Glatze. Rainer sah irgendwie rührend aus in seinem eingelaufenen Wollpullunder über dem angegrauten Hemd, das er wahrscheinlich mit der Buntwäsche in die Maschine getan hatte. Der Kragen wellte sich wie eine Wurstscheibe, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Ich musste mich schwer beherrschen, ihn nicht in Form zu ziehen. Aber das hätte eindeutig ein falsches Signal gesetzt. Ich räusperte mich, bemühte mich um einen neutralen Nachbarinnen-Ton.
    »Mutter sagt, du hast eine Nachricht für mich?«
    »Ja. Hier.« Mit zitternden Fingern reichte Rainer mir den Zettel. Ich erkannte seine Handschrift auf Anhieb, schließlich war sie mir wohlvertraut.
    Zwischen
    gestern und heute
    habe ich dich
    ganz deutlich
    an mir
    gespürt –
    auch wenn da
    noch eine gewisse
    Entfernung war.
    Aha. Die Entfernung betrug zwar nur wenige Zentimeter in Form einer Wohnungszwischenwand, aber er meinte wahr scheinlich eher meine freundliche, aber unwiderrufliche Distanziertheit, die er einfach nicht akzeptieren wollte. Der letzte Brief, den er mir zugesteckt hatte, lag mir noch schwer im Magen:
    Nichts,
    was im Kopf entsteht,
    ist
    unveränderlich.
    Aber
    meine Liebe zu dir
    entstand im Herzen.
    Auf seine Art war Rainer Frohwein wirklich bezaubernd, aber er war weit davon entfernt, mein Traummann zu sein. Mutter hingegen fand sein altmodisches Werben einfach nur hinreißend.
    »Wer schreibt denn heute noch so wundervolle Gedichte?«, sagte sie immer wieder. »Und dann noch in dieser wunderbaren Handschrift. Jeder normale Mann benutzt inzwischen den Computer!«
    Tja, wo sie recht hatte, da hatte sie recht. Natürlich war es romantischer, seine Angebetete mit grüner Tinte zu besingen, statt ihr eine SMS oder eine Mail zu
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