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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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ein fach. Er redete schon seit Minuten auf mich ein, und erst jetzt fiel mir sein leicht norddeutscher Akzent auf. Er berichtete mir gerade von seinem beruflichen Werdegang, von seinen Auslandsreisen, Fremdsprachenkenntnissen und sportlichen Aktivitäten. Golf war seine Leidenschaft. Skifahren. Wassersport. Er war verheiratet, lebte in Hamburg, und seine Frau hieß Silke. Die beiden hatten zwei süße kleine Kinder, Laura und Max, und ein drittes war gerade unterwegs. Alles war gut. Ich konnte kaum fassen, dass ich Enkelkinder hatte. Wie denn auch! Bis noch gerade eben war ich eine mehr oder weniger alleinstehende Frau gewesen. Eine alte Jungfer, die irgendwann einsam enden würde. Wenn Mutter nicht mehr wäre. Dann hätte ich die Wahl: Rainer oder keiner.
    Und nun würde ich – eine Familie haben? Sie kennenlernen?
    Mutter!, schoss es mir durch den Kopf. Was würde sie für Augen machen, wenn ich ihr das gleich erzählte: Mutter, ich habe meinen Sohn gefunden! Nach dreißig Jahren! Oliver hat sich gemeldet! Du hast einen Enkel! Du hast Urenkel! Ich selbst bin schon Großmutter! Wir werden sie alle kennenlernen, wir fliegen nach Hamburg! O Gott, ich konnte es kaum fassen. Ein jähes Glücksgefühl brach sich Bahn. Nichts war mehr so wie vorher, eine ganz neue Welt lag vor mir.
    Immer wieder hatte ich sie mir ausgemalt, diese – LEUTE . Eine Frau und einen Mann, die in dieses Entbindungshaus, diese Einrichtung für junge ledige Mütter gekommen waren, wo ich Oliver geboren hatte. Wo Schwester Mathilde eines Tages kam und sagte, jetzt sei jemand für Oliver da, und ich müsse ihn hergeben. Schwester Mathilde hatte selbst ein uneheliches Kind. Über den Vater verlor sie keine Silbe. Auch sie hatte in dieser Klinik entbunden, ihr Kind aber zur Adoption freigegeben. Danach war sie Nonne geworden. Sie half mir bei der Entbindung und beim Ausfüllen der Dokumente. Sie tröstete mich und sagte, das sei für alle die beste Lösung. Man komme darüber hinweg. Man müsse nur Gott um Verzeihung bitten. Was die (geistlichen) Kindsväter beteten, stand nicht zur Debatte. Sie sollten in Ruhe Karriere machen.
    Oliver war damals knapp vier Wochen alt. Ich hatte ihn Tag und Nacht bei mir, in diesem Kämmerchen im Entbindungsheim, wo die jungen ledigen Mütter schwanger durch den Hintereingang kamen und ohne Kind wieder gingen, während die Adoptiveltern den Vordereingang benutzten. Vor dem sie ihren großen schicken Wagen mit Kindersitz parkten, um anschließend mit einem Bündel im Arm überglücklich wegzufahren.
    Wir waren damals tief in der katholischen Kirche verwurzelt, Mutter und ich. Nachdem mein Vater so plötzlich gestorben war, hatte sie uns Halt gegeben mit ihren fürsorglichen Menschen, dem Chor, in dem Mutter sang, und der Jugendgruppe, in der ich damals ein zweites Zuhause fand. Mit sechzehn übernahm ich die Leitung der Kindergruppe, organisierte Theateraufführungen, Ausflüge, Freizeiten. So wie die am Wolfgangsee. Im Sommer 1983 war das gewesen. Ich schloss die Augen und sog noch einmal diese warme, würzige Luft ein. Moos. Weiches dunkelgrünes Moos unter nackten Füßen. Ein herrlicher Sommer. Ein Jahrhundertsommer, wie die Leute sagen. Der blaugrüne See, die Berge, der wolkenlose Himmel, die rauschenden Wälder, die lauen Nächte, die Neugier und Lebensfreude … Es war wie ein schöner Traum. Eine Kinderfreizeit: lautes Lachen, ausgelassenes Herumtoben, Gesang am Lagerfeuer. Ich stand an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Vikar Alessandro Bigotti aus Italien betreute die Jungen, ich die Mädchen. Er konnte wunderbar Gitarre spielen und mit tiefer Stimme dazu singen. Sofort kam mir mein Lieblingslied wieder in den Sinn: »Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.«
    Ja, die Kirche war für mich ein zweites Zuhause gewesen. Und er – eine Art Vaterersatz. Er war um einiges älter als ich. Ein erwachsener Mann. Ein toller Mann. Ein unerreichbarer Mann. Ich schloss die Augen: Genau dreißig war er damals! So alt wie jetzt … unser … Sohn! Ich riss mich aus meinen Erinner ungen, atmete schwer. Ich hatte ihn am Telefon, hier und jetzt!
    »Oliver, was hattest du für Eltern?«, hakte ich nach. Wenn ich jetzt zu hören bekam, dass er in gute Hände gekommen war, wären dreißig Jahre voller Gewissensqualen endlich vorbei! Dieser Anruf könnte mich endlich erlösen!
    »Ich kann Sie beruhigen …«
    Er SIEZTE mich, mein Sohn siezte mich!
    »Ich hatte wunderbare Eltern. Aber das
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