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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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verstehen«, sagte ich schnell. »Besonders zu diesem traurigen Zeitpunkt.«
    »Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie ich Sie gefunden habe?«
    »Doch!«, rief ich laut. Aus dem Badezimmer kam ein lautes Poltern. Mutter würde doch nicht vom Hocker gefallen sein? Meine Stimme bebte. »Bitte erzählen Sie es mir!«, sagte ich drängend.
    »Ich habe die Tagebücher meiner Mutter gelesen«, verkündete Oliver. »Nach ihrem Tod natürlich.« Er schwieg.
    »Natürlich. Verstehe.« Ich spürte, wie mich ein irrationaler Groll erfasste. Sonst hätte er es NIE erfahren, oder was?! Und ich hätte ihn NIE wiedergefunden?
    »Carin!«, kam ein dünnes Stimmchen aus dem Badezimmer. »Carin!«
    O Gott! Mutter brauchte mich! Sie war gestürzt! Ich musste ihr helfen! Wie konnte ich jetzt diesen – Roman/Oliver dazu bringen, am Telefon zu bleiben? Während ich mit einem Ohr angestrengt zum Bad hinüberlauschte, presste ich mein anderes verzweifelt an den Hörer. Mein leiblicher Sohn redete wie ein Wasserfall und ließ mir nicht die geringste Chance, zu Wort zu kommen. Wenn ich das mit halbem Ohr richtig mitbekam, hatte er tatsächlich erst aus den Tagebüchern von seiner Adoption erfahren. Sein Vater war stinksauer, anscheinend hätte das Ganze ein wohlgehütetes Geheimnis bleiben sollen. Kein Wunder, dass der Reeder von Olivers Idee, mich anzurufen, nicht begeistert war. Andererseits … Ich schüttelte den Kopf. Wie hatten sie einem erwachsenen Mann so lange verheimlichen können, dass er adoptiert war? Spätestens bei seiner Heirat hätte er doch … Nervös fuhr ich mir durchs Haar. So genau kannte ich die Regeln nicht. Vielleicht galten in Hamburg andere Bestimmungen als in Bayern?
    »Carin!«, kam es flehentlich aus dem Bad. »Hilfe! Carin!«
    Mir schwante Schlimmes.
    »Oliver, ähm, Roman, also, Herr Stiller, ich MUSS Sie leider unterbrechen«, rief ich gehetzt. »Meine Mutter ist gestürzt! BITTE bleiben Sie dran, ich muss ihr nur kurz aufhelfen!«
    Mit diesen Worten ließ ich das Telefon neben Rainers sterbende Rosen fallen und eilte ins Bad. Mutter lag im Nachthemd auf dem Boden und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein. »Carin! Warum telefonierst du denn einfach weiter?«, wimmerte sie
    Ich fühlte mich furchtbar. Ich war eine Rabentochter. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes vom Hocker gefallen! »Mutter, du sollst doch nicht allein …« Ich sah mein rot geflecktes Gesicht im Badezimmerspiegel.
    »Au, Carin! Ich glaube, da ist was gebrochen!«
    »Oh, Mutter, du glaubst ja nicht, wer da angerufen hat – das heißt, ich habe IHN angerufen, und er ist immer noch dran …« Ich sah mir ihr Bein an und entdeckte eine klaffende Wunde. »Um Himmels willen, Mutter!«
    »Au! Ich glaube, ich werde ohnmächtig …« Mutter verdrehte die Augen.
    Entsetzt starrte ich auf den Knochen, der aus ihrem Bein ragte. Blut färbte den Klovorleger rot. Mir wurde schlecht. Das war alles zu viel für mich. Der reinste Albtraum! Noch vor zwanzig Minuten war das ein ganz normaler Samstagnachmittag gewesen! Ich hatte mich doch nur mit einem Unterhaltungsmagazin auf den Balkon setzen und Rätsel lösen wollen. Aber doch nur welche zum Zeitvertreib und keine, die mein ganzes Leben auf den Kopf stellten.
    »Warte, ich hole Hilfe!«, stieß ich erstickt hervor. Meine Glied maßen zitterten so sehr, dass ich auf allen vieren zurück ins Wohnzimmer kroch. Meine Hände hinterließen Blutspuren an Tür und Tapete. Panisch griff ich nach dem Hörer. »Oliver, ich rufe zurück!« Ich drückte die Auflegetaste und rief die Rettung.
    Als zwei Sanitäter die Trage mit meiner Mutter in den Krankenwagen schoben und sich eine Traube aus neugierigen Nachbarn um uns scharte, zitterte ich am ganzen Leib. Meine Hände waren eiskalt und klamm. Fassungslos starrte ich auf die kaum wahrnehmbare Erhebung unter dem Laken, auf Mutters spitze Nase in ihrem leichenblassen Gesicht. Ihre magere Hand tastete suchend nach mir, doch der junge, bullige Sanitäter warf schon die Tür zu. Verzweiflung ergriff von mir Besitz. Alles war meine Schuld! Mutter durfte jetzt nicht sterben, nicht jetzt! Ich starrte auf meine Hände und Knie, an denen Mutters Blut klebte. Die Nachbarn mussten ja denken, ich hätte versucht, sie abzumurksen! Das Blaulicht ging an, die Gaffer wichen zur Seite, und der Wagen raste mit Tatütata aus unserer verkehrsberuhigten Wohn straße. Mit hängenden Schultern stand ich da. Ich hatte den Sanitätern gesagt, ich werde mich waschen, frische
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