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Verteidigung

Verteidigung

Titel: Verteidigung
Autoren: John Grisham
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und mit geübtem Auge jene Patienten ausfindig machte, die aufgrund der Fahrlässigkeit anderer verletzt worden waren.
    Oscar war immer um neun in der Kanzlei. Bei Wally, dessen Leben weitaus weniger straff organisiert war, wusste man nie genau, wann er auftauchen würde. Er konnte um 7.30 Uhr durch die Tür stürmen, randvoll mit Koffein und Red Bull und bereit, jeden zu verklagen, der ihm über den Weg lief, oder sich bis elf Uhr Zeit lassen, um sich dann mit verschwollenen Augen und einem Kater in die Kanzlei zu schleppen und in seinem Büro zu verschwinden.
     
    An diesem denkwürdigen Tag kam Wally jedoch kurz vor acht mit einem breiten Lächeln und klaren Augen in die Kanzlei. »Guten Morgen, Ms. Gibson«, sagte er vernehmlich.
    »Guten Morgen, Mr. Figg«, erwiderte sie laut und deutlich. Das Betriebsklima bei Finley & Figg war nicht gerade das beste, und ein beiläufiger Kommentar genügte, um eine lautstarke Auseinandersetzung auszulösen. Worte wurden mit Bedacht gewählt und mit Argwohn gehört. Schon bei der Begrüßung am Morgen waren alle auf der Hut, da sie den Boden für Zank und Streit bereiten konnte. Die Anrede »Mr.« und »Ms.« klang zwar etwas gekünstelt, doch selbst dafür gab es einen Grund. Als Rochelle noch Wallys Mandantin gewesen war, hatte er einmal den Fehler gemacht, »Mädchen« zu ihr zu sagen, etwa in folgendem Zusammenhang: »Hören Sie, Mädchen, ich tue für Sie, was ich kann.« Er hatte das sicher nicht böse gemeint, und ihre überzogene Reaktion war fehl am Platz gewesen. Von diesem Moment an hatte sie darauf bestanden, mit »Ms. Gibson« angesprochen zu werden.
    Sie war ein wenig gereizt, weil ihre Ruhe gestört worden war. Wally unterhielt sich kurz mit AJ und rubbelte ihm den Kopf, und als er zur Kaffeemaschine ging, fragte er: »Steht was Interessantes in der Zeitung?«
    »Nein«, sagte sie, weil sie nicht über die Nachrichten reden wollte.
    »Das überrascht mich nicht«, erwiderte er – die erste Spitze des Tages. Sie las die Sun-Times , er die Tribune , und jeder attestierte dem anderen schlechten Geschmack bei der Auswahl der jeweiligen Informationsquelle.
    Die zweite Spitze kam nur wenige Augenblicke später, als Wally sich vor ihren Schreibtisch stellte. »Wer hat den Kaffee gekocht?«
    Sie ignorierte ihn.
    »Er ist ein bisschen dünn, finden Sie nicht auch?«
    Rochelle blätterte langsam die Zeitung um. Dann aß sie einen Löffel Joghurt.
    Wally schlürfte an seinem Kaffee, schmatzte mit den Lippen und verzog das Gesicht, als hätte er Essig geschluckt. Schließlich nahm er seine Zeitung und setzte sich an den Tisch. Bevor Oscar das Haus bei einem Prozess zugesprochen worden war, hatte jemand mehrere Wände im Erdgeschoss entfernt und dadurch einen offenen Eingangsbereich geschaffen. Auf der einen Seite, in der Nähe der Kanzleitür, hatte Rochelle ihren Arbeitsplatz. Einige Meter von ihr entfernt standen ein paar Stühle für wartende Mandanten und ein langer Tisch, der früher irgendwo als Esstisch gedient hatte. Im Laufe der Jahre hatte es sich eingebürgert, dass an diesem Tisch Zeitung gelesen und Kaffee getrunken wurde, und manchmal nahmen sie hier sogar beeidete Aussagen auf. Wenn Wally nichts zu tun hatte, schlug er an dem Tisch gern die Zeit tot, weil es in seinem Büro aussah wie in einem Schweinestall.
    Mit so viel Lärm wie möglich schlug er die Tribune auf. Rochelle ignorierte ihn weiter und summte leise vor sich hin.
    Einige Minuten verstrichen, dann klingelte das Telefon. Ms. Gibson schien es nicht zu hören. Es klingelte weiter. Nach dem dritten Klingeln ließ Wally die Zeitung sinken und sagte: »Ms. Gibson, wollen Sie denn nicht rangehen?«
    »Nein«, erwiderte sie kurz angebunden.
    Es klingelte zum vierten Mal.
    »Und warum nicht?«, wollte er wissen.
    Sie ignorierte ihn. Nach dem fünften Klingeln warf Wally die Zeitung hin, sprang auf und marschierte zu einem Telefon, das neben dem Kopiergerät an der Wand hing. »Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht abnehmen«, sagte Ms. Gibson.
    Er blieb stehen. »Warum nicht?«
    »Das ist ein Inkassobüro.«
    »Woher wissen Sie das?« Wally starrte das Telefon an. Auf dem Display stand UNBEKANNT.
    »Ich weiß es eben. Das Büro ruft jede Woche um diese Zeit an.«
    Das Telefon verstummte, und Wally kehrte zum Tisch und zu seiner Zeitung zurück. Er versteckte sich dahinter und fragte sich, welche Rechnung nicht bezahlt worden war, welcher Lieferant so wütend war, dass er einen Anwalt anrief und andere
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