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Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Elisabeth Herrmann
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geklettert war und zwei Happen gegessen hatte, wurde sie quengelig und müde. Jacek und Zuzanna brachten sie nach nebenan ins Türenlager, wo Mareks Matratze noch in einer Ecke lag. Nachdem Jacek dem Mädchen erklärt hatte, dass es sich hierbei um ein verwunschenes Traumzimmer handelte und hinter jeder Tür Wünsche versteckt waren, dauerte es nicht lange, und es schlief ein. Beide kamen zurück, Jacek immer noch fröhlich, Zuzanna ein wenig verlegen.
    »Danke«, sagte sie zu ihm.
    »Wofür denn?«
    Wir stapelten die Teller aufeinander, er stellte sie in die Spüle und brauste sie kurz ab. Dann versammelten wir uns wieder um den Tisch.
    »Und nun«, sagte Jacek. Erwartungsvoll sahen wir ihn an. Er holte ein Zigarettenzellophan aus der Brusttasche seines Arbeitshemdes. Darin befand sich ein mehrfach gefalteter Zettel. Vorsichtig zog er ihn heraus, faltete ihn auseinander und strich glättend mit der Hand über das dünne Papier. »Der Schatz von Janekpolana. Das, was Walther Hagen vor den Russen versteckt hat.«
    »Darf ich?« Marie-Luise zog das Schreiben zu sich heran. Sie trank einen Schluck Wein und begann vorzulesen.

Johannishagen im Juni 1945
    Rosa, lieb Rosa, Geliebteste, mein Herz, meine Seele, mein Augenlicht,
    die Dunkelheit ist nah und allumfassend. Kein Ausweg mehr in Sicht. Keine Rettung, alles verloren, alles verloren. Dies ist nicht mehr unser Land. Hamburg gehört den Briten, und unser schönes Schlesien, die liebliche Neumark, den Russen und Polen. Dies ist beschlossen und das Wehklagen groß. Wer noch nicht gegangen ist, macht sich mit den Resten seiner kümmerlichen Habe auf den Weg. Ich stehe in Grünberg und schaue den vollbesetzten Zügen nach, ich sehe die Kontrollen und was mit jenen geschieht, die keine guten Papiere haben. Ich besitze noch nicht einmal schlechte. Ich bin ein Nichts, ein Niemand. Die letzte Nadel ist dahin. Magda war noch einige Male da, auch ohne Gold und Geschmeide. Sie weinte und flehte mich an, Johannishagen zu verlassen. Kein Ausweg, keine Rettung. Vielleicht in die Wälder. Es gibt Menschen, die dort leben, Gestrandete, Heimatlose. Doch ich habe keine Kraft mehr. Meine Zeit ist gekommen, der Schnitter ist nah. Ich bin nicht traurig, lieb Rosa. Sei du es auch nicht. Der Herr hat mir diese Zeit geschenkt, um Zeugnis abzulegen, was geschah. Ich tat es, so gut ich konnte. Wenn ich sterbe, dann hier, wo die Erde nach Heimat duftet und der Himmel so hoch und weit ist wie Gottes Güte, in die ich heimkehre wie ein Kind zum Vater.
    Im Kutscherhaus sind Leute. Eine Familie, Vater, Mutter und Kind. Gestern stand ein Junge vor mir, ein mageres Kerlchen, fast so dünn wie ich. Wir erschraken sehr voreinander. Er hielt mich wahrscheinlich für einen dieser Waldmenschen, wie es einige gibt, die ihre Habe und ihre Sprache verloren haben. Keiner weiß, wer ich bin. So kann ich noch eine Weile ausharren. Ich stehle Rüben aus dem Feld und die Kartoffeln aus den Mieten unbewachter Keller. Roh ess ich sie. Kein Feuer mehr, denn der Rauch könnte mich verraten.
    Rosa, ich habe geharrt und geglaubt, gebangt und gehofft. Der Tag wird kommen, an dem ich gehen muss. Bald wird es sein. Ich bin ganz ruhig. Küss Friedel und Elli. Die süßen, unschuldigen Kinder. Sag ihnen nicht, wie ihr Vater starb. Sie mögen ihn lieben so wie damals, als ich euch im Morgengrauen verlassen musste. Als ich dich küsste, ein letztes Mal. Erzähl ihnen von Johannishagen, so wie es einst war. Erzähl, wie wir im Frühjahr in die Reben gingen, wie der Sommer kam und die Früchte reiften, wie der Herbst mit seinen kühlen Nächten und den letzten Sonnenstrahlen die Trauben liebkoste. Wie wir alle hinaufgingen und arbeiteten, Polen und Deutsche zusammen, und anschließend gemeinsam feierten. Wenn es ein Vermächtnis gäbe, so dies, dass der Wein von Johannishagen die Menschen wieder zusammenbringen möge. Gute Erde, guter Wein. Warum sollten nicht auch gute Menschen das Werk von Jahrhunderten fortsetzen? Ich wünsche ihnen Gottes Segen und eine reiche Ernte.
    Ich werde bald gehen, lieb Rosa. Meine Zeit hienieden ist gekommen. Unser Geheimnis nehme ich mit ins Grab, und ich bete, meine Ruh in Gottes Gnade möge hier in Johannishagen bei den anderen Lieben sein, die vor mir gegangen sind. Wer immer unser Letztes findet, er möge es achten und es soll ihm zum Segen gereichen. Ich küsse dich, lieb Rosa. Ich sehne mich nach dem Tod, denn dort wartet dein lächelndes Antlitz auf mich.
    Und meine Seele spannte
    Weit ihre
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