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Verschollen

Titel: Verschollen
Autoren: Åke Smedberg
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der Luft lag mehr Regen als Schnee. Noch war es dunkel. Er ging über die Eisenbahnschienen hinunter zum Wasser. Die lang gezogene Seenlandschaft erstreckte sich von der Ortschaft noch etliche Kilometer ins Landesinnere hinein, zumindest hatte es so auf der Karte ausgesehen.
    Überhaupt gab es in dieser Gegend sehr viel Wasser, fand er. Wasser und Wald. Genügend Möglichkeiten, um zu verschwinden. Oder jemanden verschwinden zu lassen. Er blieb eine Weile dort stehen, starrte über die dunkle Wasseroberfläche hinüber zu den massiven, steil ansteigenden Bergrücken, die schemenhaft auf der anderen Seite zu sehen waren.
    Dann kehrte er um und ging ein wenig spazieren. Es dämmerte. Die Dunkelheit wich langsam einem diesigen, grauen Licht. Gegen neun Uhr fand er ein geöffnetes Café, setzte sich und wartete.
    Die Gäste, die nach und nach kamen, schienen sich alle zu kennen. Einige von ihnen waren, nach ihren Overalls zu urteilen, bei der Gemeinde angestellt. Andere arbeiteten bei der Eisenbahn. Viele Handwerker. Fast ausschließlich Männer. Die meisten von ihnen waren schon etwas älter. Schwere Körper, die Gesichter voller Morgenmüdigkeit, die für einen kurzen Moment aufleuchteten, als sie sich hinsetzten und ihren Kollegen zunickten.
    Wie ausgehungert lauschte er ihren Gesprächen: Eine Wegetrommel musste irgendwo ausgewechselt werden, Reserveteile mussten geholt werden, Fragmente einer Jagdgeschichte, ein Gespräch über Pferde, über das letzte Trabrennen.
    Er dachte an all die Male, die er Janne hatte begleiten dürfen. Neben ihm im Auto hatte er gesessen, später in den Essenspausen dann eingeklemmt zwischen ihm und den Arbeitskollegen. Der Geruch von Schweiß und Tabak, Dieselöl, ihre Stimmen und ihr Lachen. Wie sie sich nach hinten lehnten, auf die Uhr schauten, eine Zigarette anzündeten und noch einen letzten Witz erzählten, ehe es wieder Zeit wurde, weiterzumachen.
    Plötzlich sah ihn jemand mit durchdringendem Blick an, und er schaute mit einem ertappten Lächeln weg. Er sah auf die Uhr und erhob sich. Die Zeit war ihm davongelaufen. Er kam nicht gerne zu spät, und so musste er - auf seine ruckartige, etwas unbeholfene Art - bis zu der heruntergekommenen Einkaufszeile laufen. Sie lag an der Durchfahrtsstraße und beherbergte auch die Polizeistation.
    Olle Ivarsson saß hinter seinem Schreibtisch in einem Raum, in dem alles nach einem künstlichen, aber starren Muster geordnet und aufgestellt wirkte. Papiere, Aktenordner, Stifte, Stühle, Schreibtisch, Stehlampe. Überall schien Millimeterpräzision zu herrschen. Sogar die lange Gestalt hinter dem Schreibtisch vermittelte zu Anfang den Eindruck, sie sei ein Bestandteil dieser beinahe lähmenden Ordnung. Das tadellos gebügelte Hemd, die grauen, kurz geschnittenen und sorgfältig nach hinten gekämmten Haare. Das glatt rasierte, scharfgeschnittene Gesicht.
    Als aber der Mann sich erhob und um den Tisch auf ihn zukam, gab seine Körpersprache plötzlich ein ganz anderes Bild ab. Seine Bewegungen waren schnell, etwas fahrig, nachlässig. Und seine Art, den Kopf nach vorne zu stoßen und sein Gegenüber bei der Begrüßung zu mustern, hatte etwas Ungehobeltes, Aufdringliches.
    »John Nielsen? Sie sind ja ein Riese! Es passiert nicht so oft, dass ich zu den Leuten aufsehen muss, mit denen ich spreche.«
    Er machte eine kleine Pause.
    »Sie haben also vor, die Gegend ein bisschen in Schwung zu bringen?«
    John Nielsen betrachtete ihn und runzelte die Stirn.
    »Was meinen Sie damit?«, fragte er.
    Aber der andere hatte sich bereits umgedreht, war mit zwei großen Schritten wieder hinter dem Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl gleiten. Dann machte er eine Geste zu dem Stuhl, der ihm gegenüberstand.
    »Bitte sehr, lassen Sie sich in diesem Durcheinander nieder.«
    John Nielsen inspizierte seinen Gesichtsausdruck, um auch das kleinste Anzeichen von Ironie zu finden, doch erfolglos. Dann zuckte er mit den Achseln und setzte sich hin. Erst da legte sich ein Lächeln über Olle Ivarssons Gesicht.
    Er machte eine ausladende Geste in Richtung Zimmer.
    »Ich brauche das so, damit es funktioniert. Ein bisschen Ordnung um mich herum. Sonst weiß der Teufel, wie das hier eines Tages noch endet...«
    Er kippte den Stuhl nach hinten, streckte seine langen Beine aus und kam auf Nielsens Frage zurück.
    »Was ich damit meine? Nun ja, das ist doch gar nicht so schwer zu verstehen. Das Getratsche, all die Gerüchte, die hier im Umlauf waren.«
    »Aber heute ja
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