Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit
Autoren: Kate Wilhelm
Vom Netzwerk:
erwacht, und rannte zu seiner neugeborenen Tochter, die an einer Spielzeugrassel zu ersticken drohte.
    Eine Frau stellte ihr Auto ab und rannte zu einer Telefonzelle, um eine ältere Dame anzurufen, die bewußtlos am Boden lag. Die junge Frau wählte eine andere Nummer, und ein Notarztwagen wurde informiert und Ärzte eilten zu der Frau, die einen lebensgefährlichen Anfall gehabt hatte.
    – Auch in deinem Leben hat es solche Momente gegeben, Corky. Jeder erlebt sie. Manchmal sind sie falsch; manchmal wird der falsche Geist hier auf unserer Seite angezapft, aber manchmal sind sie richtig. Stell dir mal vor, Corky, es wäre der menschlichen Rasse bestimmt zu lernen, sich dieses gewaltige Lager hier sinnvoll zunutze zu machen, es gezielt zu verwerten. Ist es uns bestimmt? Wir wissen es nicht, doch wenn es so sein sollte, würdest du es wagen, einen Bruch in dieser Bestimmung zu verursachen? Würdest du es wagen, dieses Risiko einzugehen?
    »Wahnsinn!« schrie er hilflos. »Hör bloß auf! Ich habe begriffen. Wirklich. Laß mich nachdenken, ja?«
    – Ja, Corky, laß dir soviel Zeit, wie du willst!
    Die Stimme in seinem Kopf war verschwunden, und er kam sich merkwürdig allein vor in der schwarzen Wüste seines Denkens.

 
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
     
     
    Er mußte es probieren: Pyramiden bauen, mit den Phöniziern zur See fahren, auf dem Mond herumspazieren, in der Antarktis frieren. Es war immer das gleiche – unvermittelt, zugänglich, Geschehnisse in der wirklichen Zeit dort drüben. Er konnte es alles überblicken, erleben, erfühlen. Er konnte sich auf sein eigenes Gestern konzentrieren, auf den eben vergangenen Morgen, auf die letzte Minute, und dann folgte Finsternis.
    Er versuchte es mit anderen Leuten, verbrachte mit ihnen den Morgen, ging mit ihnen spazieren, fuhr mit ihnen Auto, flog mit ihnen, fühlte alles, dachte alles mit ihnen. Und dann folgte Finsternis.
    Er betrachtete grüblerisch Lauren auf dem Felsen. Er sah seine eigenen Kleider in der Luft hängen, leer. Er fühlte sich selbst, blickte hinab, nickte. Er hatte sich für komplett angezogen gehalten, mit den gleichen Sachen, die dort drüben waren. Mangelnde Phantasie, schalt er sich. Natürlich war er hier nicht in einem wirklichen Körper; er war nur gebündelte Energie, die fähig war zu denken, sich etwas vorzustellen und durch Raum und Land zu reisen, wie es ihr beliebte. Er wanderte durch seine schwarze Wüste, die sich so wirklich anfühlte wie jeder andere Boden, über den er je gegangen war. Wenn er hier keinen Körper hatte, wo war er dann? fragte er sich. All die Male, die er auseinandergeströmt war, was war da mit dem Gewebe, mit den Knochen, mit dem Blut geschehen? Zerlegt in Atome?
    Die Stimme in seinem Kopf bestätigte ihm, daß er mit seiner Vermutung recht hatte, und geistesabwesend bedankte er sich.
    Okay, dachte er, also zerlegt in Atome. Kupfer, Eisen, Sauerstoff, Wasserstoff …
     
    – Es ist eine lange Liste, Corky. Willst du alle Anteile wissen?
    »Nein. Halt dich raus und laß mich nachdenken, okay?«
    – Entschuldigung.
    Der Teil seines Wesens, der überall herumtrieb und wußte, was die Leute dachten und fühlten, dieser Teil hatte nichts zu tun mit den Atomen, aus denen sich sein physikalischer Körper zusammensetzte, folgerte er, und nach kurzem Zögern wurde das bestätigt, allerdings nicht durch so etwas wie eine Stimme und auch nicht durch Worte. Er wußte es einfach. Es mußte also noch etwas anderes geben, das herumgeflogen war: seinen Geist. Etwas von seinem Körper Losgelöstes also. Er wußte, daß Lauren dagegen etwas einzuwenden hätte, aber wie sollte es sonst sein? Wieder stellte sich das Gefühl einer Bestätigung ein. Er nickte. Wie oft hatte er gehört, daß Shelley, eine der Ehefrauen seines Vaters, durchs Haus gebraust war und gebrüllt hatte, sie könnte ihm noch einen Teil ihres Geistes abgeben? Keine Antwort kam, wie er feststellte, und er fuhr mit Denken und Wandern fort.
    Nach einer Weile hielt er an und schuf sich einen Liegestuhl und eine schattenspendende Eiche; dann machte er es sich bequem. Irgend etwas fehlte ihm, dachte er, irgend etwas hatte er ausgelassen, über das er an einem bestimmten Punkt hatte nachdenken wollen. Er dachte an das erstemal, als er sich auflöste, und sah, wie er den Aufzug mit Lauren verließ, sah, wie die Laserkanone sich genau in dem Moment drehte, als er sich vor das Fenster stellte. Noch nie zuvor war er in sich selbst geschlüpft, und er merkte, daß ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher