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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit
Autoren: Kate Wilhelm
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etwas zu unternehmen? Ihr hattet genügend Zeit, Versuche zu machen und einen Ausweg zu finden.«
    – Corky, dieser Moment wurde für Tausende von Jahren nach deiner Zeitrechnung eingefroren. Dies ist das Jetzt für dich, aber für uns ist es nur ein weiterer Augenblick jenseits der Zeit. Unsere Chronologie deckt sich nicht mit deiner, verstehst du?
    »Du liebe Güte«, murmelte er. »Was für ein Durcheinander! Was für ein beschissenes Durcheinander!«
    – Genau! Verstehst du, wir kommen hin und wieder zu diesem Augenblick zurück und überlegen, welche verschiedenen Möglichkeiten es gibt, und keine davon ist durchführbar, befürchte ich. Jetzt jedoch holt deine Chronologie diesen Moment ein, und wir können die Entscheidungen nicht mehr hinauszögern. Wir müssen etwas unternehmen.
    Corky betrachtete die Szene; seine Gedanken schweiften in die Minuten vor dieser Szene zurück, und da sah er Pitts, der Lauren den Pistolenlauf an die Schläfe hielt. Er blickte noch weiter zurück, bevor Pitts seine Anwesenheit kundgetan hatte. Sein Fehler. Er hatte Angst gehabt, den Muskel zu benutzen, die Insel zu erforschen. In Wahrheit war es so, berichtigte er sich, daß er einfach nicht daran gedacht hatte, sie zu erforschen. Er hatte sich in dem Gefühl der Sicherheit und Ungestörtheit und des Alleinseins mit Lauren gewiegt. Er hatte sich nach der bananengroßen Raupe gebückt. Und noch davor, noch in der Hütte, als sie sich für ihren Streifzug vorbereiteten, um die Angelausrüstung zu borgen.
    »Was geschieht also, wenn ich zu jener Sekunde zurückkehre, bevor wir uns überhaupt auf den Weg gemacht hatten, den Hügel hinaufzugehen, jetzt mit dem Wissen, daß Pitts auftauchen wird? Diesmal könnte er uns nicht so überrumpeln, das kannst du mir glauben.«
    Er konnte sich einen weisen alten Mann vorstellen, der bekümmert seufzte.
    – Das ist genau die Katastrophe, die wir am meisten befürchten, muß ich leider sagen. Du würdest damit erreichen, daß ein neuer Zweig entstünde. Jeder hat einige dieser Extra-Minuten durchlebt, weißt du. Jeder von uns hier, meine ich. Sie können nicht ungelebt gemacht werden, nicht zurückgedreht. Du würdest eine neue Zeitlinie beginnen, die von der Originallinie abweicht; das Ganze würde von vorn anfangen, denn wir alle hier sind an die alte Linie gebunden. Wir hier haben Millionen von Jahren gebraucht, um ausreichend Intelligenz und ausreichend Bewußtsein anzuhäufen, um für die dort drüben als Feedback-Speicher dienen zu können. In einer neuen Zeitlinie würde es wieder so lange dauern. Nichts aus deiner Vergangenheit kann gelöscht, nichts ungeschehen gemacht, nichts neu gestaltet werden. Wir hier würden ebenfalls stehenbleiben. Vorausgesetzt natürlich, es würde auf diese Weise funktionieren.
    »Was bedeutet das?«
    – Eine zweite Linie von Gedachtem bringt keine Veränderung mit sich. Jeder Moment muß durchlebt werden, weil es ihn gibt. Er muß stattfinden, weil er stattgefunden hat und stattfinden wird.
    »Ich komme nicht mit! Ich komme da einfach nicht mit! Du sagst, du hättest gewußt, daß all dies so geschehen würde. Du sagst, du kannst die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sehen. Du hättest alles bereits vor meiner Geburt im Keim ersticken können!«
    Diesmal war er ziemlich sicher, ein Seufzen gehört zu haben. Er schüttelte heftig den Kopf.
    – Wie du selbst sagst, du hast nichts begriffen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind eure Begriffe, nicht unsere. Wir existieren nicht in der Zeit im weltlichen Sinne, mein Freund. Corky, stell dir einen unendlich langen Roman mit unendlich vielen Figuren vor. Du kannst ihn an irgendeiner Stelle aufschlagen und erfährst, was sich auf den jeweiligen Seiten abspielt, nicht? Die Figur auf Seite zwanzig weiß nicht, was auf Seite fünfzig geschehen wird, aber du als Leser kannst die Seite fünfzig nicht abändern. Wenn dir der Verlauf der Handlung nicht gefällt, kannst du auf eine andere Seite blättern, kannst das Ende oder den Anfang lesen, kannst das Buch zuschlagen oder erst gar nicht anfangen, es zu lesen, wenn dir das lieber ist, aber das Buch ist da und existiert als Ganzes, unveränderlich. Niemand weiß, wie lang es ist oder wann man tatsächlich an seinem Ende angekommen ist. Auf irgendeiner Seite geht es nicht weiter, der Rest bleibt einem verschlossen.
    »So ist das also mit der freien Entscheidung«, murmelte er betrübt. »Damit war sowieso noch nie viel los, befürchte ich.«
    – Nein,
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