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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Horden, Stämme und Häuptlingstümer gab es noch in Südamerika außerhalb der Anden, im gesamten Nordamerika, Neuguinea, in der Arktis und auf den Pazifikinseln. Heute ist die ganze Welt mit Ausnahme der Antarktis zumindest nominell in Staaten unterteilt, in manchen Regionen bleiben staatliche Regierungen allerdings wirkungslos. Die Regionen der Erde, in denen sich die größte Zahl von Gesellschaften ohne wirksame staatliche Kontrolle bis ins 20 . Jahrhundert erhalten hat, waren Neuguinea und das Amazonasgebiet.
    Parallel zu der kontinuierlichen Zunahme von Bevölkerungszahl, politischer Organisation und intensiver Nahrungsmittelproduktion, die sich von den Horden bis zu den Staaten hinzog, verliefen andere Trends wie eine zunehmende Abhängigkeit von Metallwerkzeugen, eine Weiterentwicklung der Technologie, wirtschaftliche Spezialisierung, Ungleichheit der einzelnen Menschen und Schrift; außerdem kam es bei Kriegsführung und Religion zu Veränderungen, von denen in den Kapiteln  3 , 4 und 9 ausführlich die Rede sein wird. (Wie gesagt: Die Entwicklung von den Horden zu den Staaten fand weder überall statt noch war sie unumkehrbar oder linear). Diese Entwicklungen, insbesondere die Zunahme der Bevölkerungszahl, die politische Zentralisierung sowie die verbesserte Technologie und Waffenausstattung der Staaten im Vergleich zu einfacheren Gesellschaften versetzten die Staaten in die Lage, traditionelle Gesellschaften zu erobern, zu unterwerfen, zu versklaven, in sich aufzunehmen, zu vertreiben oder ihre Mitglieder in Gebieten, die sie für sich beanspruchten, auszulöschen. Deshalb mussten sich Horden und Stämme in der Neuzeit auf Regionen beschränken, die für staatliche Siedler unattraktiv oder schwer zugänglich waren wie die Kalahariwüste als Siedlungsgebiet der !Kung, die Wälder Äquatorialafrikas für die Pygmäen, die abgelegenen Gebiete des Amazonasbeckens für die amerikanischen Ureinwohner und Neuguinea für die Neuguineer.
    Warum lebten die Menschen um 1492 , zur Zeit von Kolumbus’ erster Atlantiküberquerung, in den verschiedenen Teilen der Welt in so unterschiedlichen Gesellschaften? Zu jener Zeit standen manche Bevölkerungsgruppen (insbesondere in Eurasien) bereits unter staatlicher Verwaltung mit Schrift, Metallwerkzeugen, intensiver Landwirtschaft und stehenden Armeen. Vielen anderen Völkern fehlten diese Kennzeichen der Zivilisation, und sowohl die australischen Ureinwohner als auch die !Kung und die Pygmäen in Afrika hatten sich noch in vielerlei Hinsicht eine Lebensweise erhalten, die bis 9000  v.Chr. für die ganze Welt charakteristisch war. Wie können wir solche auffälligen geographischen Unterschiede erklären?
    Viele Menschen haben dafür noch heute eine Erklärung, die früher allgemein vorherrschte: Danach spiegeln sich in solchen regional unterschiedlichen Erscheinungsformen angeborene Unterschiede in der Intelligenz der Menschen, ihrer biologischen Modernität und ihrer Arbeitsmoral wider. Nach dieser Vorstellung sind Europäer angeblich intelligenter, biologisch höher entwickelt und fleißiger, während australische Ureinwohner, Neuguineer und andere Völker, die heute in Horden oder Stämmen leben, weniger intelligent, primitiver und weniger ehrgeizig sind. Für solche vermeintlichen biologischen Unterschiede gibt es aber keine Belege, abgesehen von dem Zirkelschluss, dass moderne Horden- und Stammesvölker weiterhin primitive Technologie, politische Organisationsformen und Methoden der Nahrungserzeugung verwenden und demnach angeblich biologisch primitiver sind.
    In Wirklichkeit ergibt sich die Erklärung für die unterschiedlichen Gesellschaften, die in der modernen Welt nebeneinander existieren, aus Unterschieden in der Umwelt. Politische Zentralisierung und gesellschaftliche Schichtenbildung wurden durch eine Zunahme der Bevölkerungsdichte vorangetrieben, und deren Triebkraft wiederum waren die Entwicklung und Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion (Landwirtschaft und Viehzucht). Überraschend wenige wilde Pflanzen- und Tierarten eignen sich für die Domestikation und damit für die Umwandlung in Nutzpflanzen und Vieh. Diese wenigen wilden Arten konzentrierten sich nur in ungefähr einem Dutzend kleinen Regionen der Erde, deren menschliche Bevölkerung deshalb bei Lebensmittelproduktion, der Erzeugung von Nahrungsüberschüssen, Bevölkerungswachstum, technologischem Fortschritt und staatlichen Strukturen einen entscheidenden Vorsprung hatte. Wie ich in meinem
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