Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
früheren Buch
Arm und Reich
ausführlich dargelegt habe, sind solche Unterschiede die Erklärung dafür, warum die Europäer, die in der Nähe der Region (dem Fruchtbaren Halbmond) mit den wertvollsten domestizierbaren wilden Pflanzen- und Tierarten lebten, sich am Ende über die ganze Welt verbreiteten, während die !Kung und die australischen Ureinwohner dies nicht taten. Im Zusammenhang des hier vorliegenden Buches bedeutet das, dass die Menschen, die noch heute in traditionellen Gesellschaften leben oder bis vor kurzem in solchen Gesellschaften zu Hause waren, biologisch moderne Völker sind, die aber zufällig in Regionen mit wenigen domestizierbaren Pflanzen- und Tierarten lebten; ansonsten ist ihre Lebensweise aber auch für die Leser dieses Buches von Bedeutung.

Methoden und Quellen
    Im vorherigen Abschnitt ging es um allgemeine Aussagen über Unterschiede zwischen traditionellen Gesellschaften, das heißt über Unterschiede, die systematisch mit unterschiedlicher Bevölkerungszahl und Bevölkerungsdichte, den Mitteln der Nahrungsbeschaffung und der Umwelt zu tun haben. Die allgemeinen Trends, von denen dort die Rede war, gibt es zwar, aber die Vorstellung, man könne alles in einer Gesellschaft aufgrund dieser materiellen Bedingungen voraussagen, wäre absurd. Man denke beispielsweise nur an die kulturellen und politischen Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen, die in keinem offenkundigen Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen der Umwelt in Frankreich und Deutschland stehen – diese Unterschiede sind nach den Maßstäben der weltweiten Variationsbreite bestenfalls gering.
    In der Wissenschaft verfolgt man mehrere Ansätze, um die Unterschiede zwischen Gesellschaften zu verstehen. Jeder davon ist nützlich, um Aufschlüsse über einige Unterschiede zwischen manchen Gesellschaften zu gewinnen, eignet sich aber zum Verständnis anderer Phänomene nicht. Einen auf die Evolution gestützten Ansatz habe ich im vorherigen Abschnitt bereits erörtert: Man sucht nach allgemeinen Merkmalen, in denen sich Gesellschaften unterschiedlicher Bevölkerungszahl und -dichte unterscheiden, während sie bei Gesellschaften mit vergleichbarer Bevölkerungszahl und -dichte ähnlich sind; außerdem zieht man Rückschlüsse auf Veränderungen, die sich mit dem Wachsen oder Schrumpfen einer Bevölkerung einstellen, oder beobachtet sie manchmal auch unmittelbar. Im Zusammenhang mit der evolutionären Methode steht ein Ansatz, den man als anpassungsorientiert bezeichnen könnte: Danach dienen manche Merkmale einer Gesellschaft der Anpassung, und sie versetzen die Gesellschaft in die Lage, vor dem Hintergrund ihrer materiellen Bedingungen, ihrer physikalischen und sozialen Umstände sowie ihrer Größe und Dichte effizient zu funktionieren. Beispiele sind die Tatsache, dass alle Gesellschaften von mehr als einigen tausend Menschen Führungsgestalten brauchen, und das Potential solcher großen Gesellschaften, die notwendigen Lebensmittelüberschüsse für die Ernährung solcher Anführer zu produzieren. Dieser Ansatz führt dazu, dass man allgemeine Aussagen formuliert und den Wandel einer Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Umstände und Umweltbedingungen interpretiert, in denen sie lebt.
    Den Gegenpol zu diesem ersten Ansatz bildet der zweite: Danach betrachtet man jede Gesellschaft aufgrund ihrer besonderen Geschichte als einzigartig und interpretiert kulturelle Merkmale als unabhängige Variablen, die nicht von materiellen Voraussetzungen abhängen. Unter der praktisch unendlichen Zahl von Beispielen möchte ich einen Extremfall aus einem der in diesem Buch beschriebenen Völker erwähnen, weil er besonders dramatisch ist und definitiv nichts mit materiellen Bedingungen zu tun hat. Die Kaulong, eine von mehreren Dutzend kleinen Bevölkerungsgruppen südlich der Wasserscheide auf der Insel Neubritannien östlich von Neuguinea, praktizierten früher das rituelle Erdrosseln von Witwen. Wenn ein Mann starb, suchte die Witwe ihre Brüder auf, damit diese sie erwürgten. Sie wurde nicht wie bei einem Mord gegen ihren Willen erdrosselt, und andere Mitglieder der Gesellschaft übten auch keinen Druck auf sie auf, diese ritualisierte Form des Selbstmordes zu begehen. Sie war vielmehr mit der Sitte aufgewachsen und befolgte sie auch selbst, wenn sie Witwe wurde; dabei drängte sie ihre Brüder (oder, wenn sie keine Brüder hatte, ihren Sohn) energisch, die erhabene Verpflichtung zu erfüllen und sie trotz ihres natürlichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher