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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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der Grund, warum wir uns getrennt haben.« Darauf räumt der Mann die Affären ein, aber nun fragt sich der Therapeut, warum dieser Mann im Gegensatz zu den meisten glücklich verheirateten Männern Affären hat. Darauf antwortet der Mann: »Meine Frau ist ein kalter, egoistischer Mensch, und ich wollte eine Liebesbeziehung zu einem normalen Menschen; die habe ich in den Affären gesucht, und das ist die tiefere Ursache für unsere Trennung.«
    In einer Langzeittherapie würde der Therapeut nun in der Kindheit der Frau nachforschen, warum sie so kalt und egoistisch geworden ist (wenn es wirklich stimmt). Aber schon diese kurze Version der Geschichte zeigt, dass Ursachen und Wirkungen in Wirklichkeit meistens Kausalketten sind, wobei manche Ursachen näher liegen und andere grundsätzlicherer Natur sind. In diesem Buch werden uns viele solche Ketten begegnen. Ein Stammeskrieg (Kapitel  4 ) zum Beispiel hat seine unmittelbare Ursache vielleicht darin, dass die Person A aus einem Stamm der Person B aus einem anderen ein Schwein gestohlen hat; A rechtfertigt die Tat mit einer tieferen Ursache (Bs Vetter hatte versprochen, ein Schwein von As Vater zu kaufen, hat aber nicht den vereinbarten Preis bezahlt); und die letzte Ursache des Krieges ist Dürre, Ressourcenknappheit und Bevölkerungsdruck, die dazu führen, dass beide Stämme nicht genügend Schweine besitzen, um sich davon zu ernähren.
    Das also sind die weitgefassten Ansätze, mit denen man in der Wissenschaft versucht, in den Unterschieden zwischen den Gesellschaften der Menschen einen Sinn zu finden. Betrachten wir nun einmal, wie Wissenschaftler unsere Kenntnisse über traditionelle Gesellschaften gewonnen haben. Wir können die Informationsquellen ein wenig willkürlich in vier Kategorien einteilen; jede davon hat ihre Vor- und Nachteile, und die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Die naheliegendste Methode ist die, mit der auch die meisten Informationen in diesem Buch gewonnen wurden: Man schickt ausgebildete Sozialwissenschaftler oder Biologen für kurze oder längere Zeit zu einem traditionellen Volk, und dort konzentrieren sie sich im Rahmen einer Studie auf ein bestimmtes Thema. Diese Methode unterliegt aber einer wichtigen Einschränkung: In der Regel können Wissenschaftler sich erst dann bei einem traditionellen Volk niederlassen, wenn dieses »befriedet«, durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert oder durch eine staatliche Regierung erobert und ihrer Herrschaft unterworfen wurde; all das bedeutet eine beträchtliche Veränderung im Vergleich zum früheren Zustand des Volkes.
    Eine zweite Methode ist der Versuch, hinter die jüngsten Veränderungen moderner traditioneller Gesellschaften zu blicken, indem man noch lebende, des Schreibens unkundige Menschen nach ihrer mündlich überlieferten Geschichte fragt und auf diese Weise rekonstruiert, wie ihre Gesellschaft vor einigen Generationen ausgesehen hat. Eine dritte Methode bedient sich ebenfalls der Rekonstruktion aufgrund mündlicher Berichte und versucht ein Bild der traditionellen Gesellschaft vor dem Besuch moderner Wissenschaftler zu zeichnen. Dieses Mal bedient man sich jedoch der Berichte von Entdeckern, Kaufleuten, reisenden Beamten und missionierenden Sprachforschern, die in der Regel früher in Kontakt mit traditionellen Völkern gekommen sind als die Wissenschaftler. Die so gewonnenen Berichte sind zwar in der Regel weniger systematisch, weniger quantitativ und wissenschaftlich nicht so streng wie die Aufzeichnungen fachspezifisch ausgebildeter Freilandforscher, zum Ausgleich bieten sie aber den Vorteil, dass die von ihnen beschriebene Stammesgesellschaft sich weniger stark gewandelt hat als bei der späteren Untersuchung durch Wissenschaftler. Die letzte Quelle von Informationen über Gesellschaften in der entfernten Vergangenheit, die keine Schrift besaßen und nicht in Kontakt mit schreibkundigen Beobachtern gekommen sind, bieten die archäologischen Ausgrabungen. Sie haben den Vorteil, dass man mit ihrer Hilfe eine Kultur aus einer Zeit rekonstruieren kann, lange bevor sie mit der modernen Welt in Kontakt kam und durch sie verändert wurde – allerdings um den Preis, dass kleine Einzelheiten (beispielsweise Namen und Motive der Menschen) verloren gehen und dass es mit viel mehr Unsicherheiten und Mühe verbunden ist, aus den physischen Ausdrucksformen, die sich in archäologischen Fundstätten erhalten haben, gesellschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen.
    Für Leser
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