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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Autoren: Heather Gudenkauf
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in ihrem Leben bekommt Allison, was sie verdient.

ALLISON
    Ich lege den Hörer zurück auf die Gabel, wobei ich mir sehr bewusst bin, dass mich Olene mit ihren schnellen, vogelähnlichen Augen aufmerksam beobachtet. Sobald ich mich eingerichtet und eine Arbeit gefunden habe, werde ich mir ein Handy kaufen, damit ich während meiner Telefongespräche ein wenig Privatsphäre habe. Ich bin sicher, dass meine Eltern mir ein Telefon kaufen würden, aber ich will nicht, dass es bei meiner ersten Konfrontation mit ihnen gleich um Geld geht. Außerdem möchte ich ihnen zeigen, dass ich zurechtkomme und mich um mich selbst kümmern kann. Ich frage mich, was sie im Moment über mich denken. Insgeheim hatte ich gehofft, dass sie vor dem Gertrude House warten würden, um mich bei meiner Ankunft zu begrüßen.
    Olene muss hellseherische Fähigkeiten haben, denn sie sagt: „Viele der Bewohner besitzen Handys, aber wir haben hier die Regel, dass die Telefone während der Hausarbeit und unserer Gruppensitzungen ausgeschaltet sein müssen. Wir wollen das Bedürfnis der anderen nach Ruhe respektieren.“
    Olene fährt mit der Führung fort, wo wir sie unterbrochen haben. Sie bringt mich in die Küche, in der alle Bewohner abwechselnd das Abendessen zubereiten. Dann geht es weiter in einen achteckigen Raum mit hoher Decke. Eine grauhaarige Frau in der Uniform einer Kellnerin döst auf einem Sofa, und eine junge, zierliche, dunkelhäutige Frau hält ein Kleinkind auf ihrem Schoß und singt ihm leise etwas auf Spanisch vor. Im Fernseher läuft eine Seifenoper, der Ton ist ausgestellt.
    „Das sind Flora und ihr Sohn Manalo“, flüstert Olene. „Und das ist Martha.“ Olene deutet auf die schlummernde Frau. Floras Augen verengen sich misstrauisch. Sie zieht Manalo enger an sich. Der kleine Junge winkt uns zu und grinst.
    „Nett, dich kennenzulernen“, sage ich.
    Flora redet in schnellem Spanisch auf Olene ein, ihre Stimme klingt angespannt und feindselig. Olene antwortet auf Spanisch.Ich habe das Gefühl, dass Olene einiges an Überzeugungsarbeit leisten muss, um die anderen Bewohnerinnen vom Gertrude House zu beruhigen, wenn es um mich geht.
    „Komm, wir gehen nach oben, und ich zeige dir dein Zimmer.“ Olene nimmt mich am Ellbogen und führt mich vom Fernsehraum zu der Wendeltreppe, die zu den Schlafzimmern führt. Ich spüre Floras Blicke im Rücken, als ich Olene die Treppe hinauf folge. Ich bin noch keine zwanzig Minuten hier, und schon scheint jeder zu wissen, wer ich bin und was ich getan habe. Ich weiß, ich sollte das nicht so an mich heranlassen, im Gefängnis hatte ich schon das gleiche Problem, aber irgendwie kommt es mir hier anders vor.
    „Wir erwarten, dass jeder hier eine aktive Rolle im Haushalt übernimmt“, sagt Olene, und ich sehe, dass das stimmt. Nirgendwo liegt ein Staubkörnchen, und die Fußböden glänzen. Olene klopft leise an eine geschlossene Tür, bevor sie sie öffnet. Dahinter kommt ein kleines Zimmer mit einem Etagenbett und zwei kleinen Kommoden zum Vorschein. Auf den Betten liegen Decken mit blau-weißem Blumenmuster und dicke Kissen. Eine neue Welle der Erschöpfung überfällt mich, und ich will mich einfach nur hinlegen. Die Wände sind hellblau gestrichen, und gestärkte weiße Gardinen hängen vor dem Fenster. Es ist ein sehr friedvoller Raum.
    „Deine Zimmergenossin Bea ist gerade bei der Arbeit. Sie wird in ein paar Stunden heimkommen. Warum packst du nicht schon mal aus und richtest dich ein? Ich komme in einer Weile wieder, dann können wir weitermachen.“ Ich schaue zu den Betten und zögere, frage mich, welches meines ist. Olene sagt: „Bea schläft lieber im oberen Bett – sie sagt, dass sie unten klaustrophobisch wird.“
    Dann tätschelt Olene meinen Arm und will das Zimmer verlassen. „Olene“, sage ich. Sie dreht sich zu mir um, und ich bin überrascht, wie freundlich ihr erschöpftes Gesicht aussieht. „Danke.“
    „Gern geschehen.“ Sie lächelt. „Ruh dich ein wenig aus, undruf mich, wenn du was brauchst.“
    Meine wenigen Habseligkeiten passen bequem in eine Schublade meiner Kommode. Auf eine Art erinnert mich Gertrude House an das Sommercamp, das ich mit elf Jahren besucht habe. Ich teile mir ein Zimmer mit einem Etagenbett, und nach dem, was Olene gesagt hat, folgen wir hier auch einem speziellen Stundenplan, der im Gemeinschaftsraum ausgehängt wird. Von dem Moment, wenn wir um halb sechs Uhr morgens aufwachen, bis zum Ausschalten des Lichts um halb elf abends
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